zum vorherigen Tag | 29. Juli 20125 | zum nächsten Tag |
In der Nacht hat es geregnet und vielleicht ist man gut beraten, wenn man die
Regensachen nicht zu tief unten im Rucksack versteckt.
Auf dem Bänkli vor unserem Haus sitzt ein durchnässter, zitternder,
älterer Mann und raucht eine Zigarette. Er ist eben vom Vereinapass her
gekommen, wo er die Nacht im Freien verbringen musste, weil es ihm vor der
Dunkelheit nicht mehr ins Berghaus gereicht habe. Er scheint mir ein bisschen
ein komischer Kauz zu sein. Von Biel sei er und sicher hat er seine Kräfte
überschätzt. Bis hierher und nicht weiter. Leon aus Biel will den Wirt
nun fragen, ob er ihm das Vereinataxi bestellt. Immerhin bekommt er einen
heissen Kaffee, aber trinken muss er ihn draussen, denn seine Zigarette will er
nicht aus dem Mund nehmen.
Es beginnt wieder zu schiffen, aber bis wir um halb neun starten, reisst es auf
und ich habe ein Hüttenbild mit blauem Himmel. Bis wir auf unserem Weg
hinein ins Süsertal kommen, zwingt uns die Sonnen, welche ab und zu durch
die Wolken, die sich noch um die Unghürhörner tummeln, bereits zu
einem Tenuefez. Pascal hat wieder seine Rucksack-Waage mit dabei und auch ich
will nun wissen, wieviel ich da neun Tage lang auf dem Buckel mitschleppe. 9,4
Kilo, mit frisch aufgetankten Flaschen, da bin ich ja direkt stolz. Immerhin
habe ich etwas gelernt seit meiner ersten Wanderung, als ich es nicht unter 14
Kilo schaffte.
Mehr oder weniger sanft ansteigend zieht sich das Süsertal dahin.
Überall blüht nun bereits der blaue Eisenhut und im kiesigen Grund
neben dem Bach Iva, die Moschus-Schafgarbe für den Schnaps. Eine ganze
Wiese voll "Chutzbuebe", wie ich die verblühten Schwefelanemonenköpfe
nenne, glänzen in der Morgensonne und ganz zuhinterst im Tal weiden da
einfach Pferde. Wunderschöne Pferde mit blonden und schwarzen, wehenden
Mähnen und Schwänzen und fressen genüsslich die kratzigen
Disteln. Ab und zu verliert sich der Weg auf der Weide, aber am nahen Steilhang
kann man sich gut an den weiss/roten Zeichen orientieren, die senkrecht stehend
immer steiler und höher an grossen Felsen angebracht sind, bis man den
höchsten Punkt erreicht hat, wo man vorher nur noch Himmel sah. Nur, an
dieser Kante geht's erst mal über einen Bach und ein Schneefeld flach
weiter. Flesspass heisst es hier und an lieblichen Seen weiden braune Kühe.
Wir schreiten durch eine mit Margriten übersäte Wiese. Viel weiter
hinten in diesem Hochtal dann der Passübergang. Direkt dahinter türmen
sich die nackten, massigen Felsen des Piz Linard und je näher wir dem Pass
kommen, desto mehr gibt der Piz von seiner bizarren Statur unseren Blicken frei.
Links von ihm erscheinen zwei kleinere Hörner, der Piz Sagliains und der
Piz Zadrell, welche zwischen sich einen breiten, flachen, hellblau schimmernden
Gletscher einrahmen.
Malerisch liegt zu unseren Füssen knapp vor der Kante ein kleiner See,
dessen Abflusswasser sich durch Geröll und Gestein seinen Weg hinunter ins
Tal sucht, um sich dort mit den Wassern des Gletschers zu vereinen.
Den höchsten Punkt haben wir noch vor dem See überschritten, aber erst hier an der Kante gibt uns ein Wegweiser die Erlaubnis zum wohlverdienten Gipfelkuss: ‚Pass dal Vereina 2585 m'. Es muss gerade noch reichen für ein Gipfelfoto, bevor wir uns ein geschütztes Picknickplätzchen aussuchen, denn in den nassen, verschwitzten Hemden fühlt sich der Wind nämlich eisig an und er bläst von der Engadiner Seite her ziemlich dunkle Wolken in das unter uns liegende, schier endlos scheinende Tal.
Also machen wir uns bald auf den Abstieg, zuerst über ein schönes Schneefeld. Für Hans wäre es Juhui, wie für mich auch, dann kommen fast Kletterpartien über die Felsen hinunter, bis wir am Bach dann eine längere Zeit eher ebenaus dem Wässerchen folgen können, bis die nächste steile Stufe eine Etage tiefer ins nächste Hochtal führt. Ein starker Fallwind reisst uns die Mütze vom Kopf und hetzt uns vorwärts. Das Wässerchen neben uns wird zum tosenden Bergbach und beruhigt sich dann unten, genau wie der Wind und munter schlängelt es sich weiter durch hüfthohes Gras und Weideröschen und die ersten Erlengebüsche. Zum Wandern ist es wunderschön, aber man muss sehr aufpassen, dass man nicht in vom Gras versteckte Löcher tritt. Ausserdem beginnt es jetzt auch zu regnen, was die Steine jetzt glitschig macht. Wir sind nun bei der nächsten felsigen Stufe angelangt, welche aber ganz neu mit Treppenstufen und einer Kette gesichert wurde. Zum Glück besinnt sich das Wetter und leert wohl sein Nass etwas weiter hinten im Tal aus. Endlich kommt das Tal in Sicht und man sieht gemähte Wiesen. Vor dem ersten Haus, das am Weg liegt, plätschert verlockend ein Brunnen, an welchem wir uns erlauben, die leeren Flaschen nochmals aufzufüllen.
Bald ist es nicht mehr so steil und wir erreichen die Fahrstrasse, welche aber
noch auf zweieinhalb Kilometer unseren wackeligen Knien und müden Beinen
zusetzt. 1150 Meter Abstieg heute waren nicht ganz ohne!
Wir sind gerade noch hundert Meter vom Hotel Piz Linard entfernt, als wie beim
Eintreffen im Furgglis, die Schleusen geöffnet werden.
Aber auf uns wartet eine richtig schöne Unterkunft. Ein Zweier- und ein
Viererzimmer mit Dusche und WC. Logischerweise bekommen Rainer und Irene das
Zweierzimmer, während Pascal, Herbert, Knud und ich die beiden Räume
im Viererzimmer beschlagnahmen. Pascal und Herbert müssen sich das Ehebett
und das einzige Duvet darauf teilen, während Knud und ich im hinteren Raum
immerhin jedes sein eigenes Bett hat. So kann man nach einer wunderbar warmen
Dusche die malträtierten Beine hochlagern, bis es Zeit zum Essen ist. Auf
ein gediegenes Dinner wird hier Wert gelegt und entsprechend erwartungsvoll
finden wir uns um sieben Uhr im grossen, mit Arvenholz getäferten Esssaal
ein. Für 160 Franken mit Halbpension können wir ja wirklich etwas
Spezielles erwarten. Es ist die einzige Unterkunft hier in Lavin. Alvernativ
hätte man von hier mit dem Zug nach Zernez oder Susch fahren müssen,
doch angesichts meiner müden Beine, die sich beinahe weigern, mich nach dem
Nachtessen noch die drei Treppen hoch zu hieven…. Pascal hat das schon
gut gemacht.
Ausserdem passt es zum Motto der diesjährigen Sommerwanderung mit
kulinarischen Höhenflügen.
Aus den sechs auf der Karte aufgelisteten Gängen, können wir als
Hotelgäste mit Halbpension vier auswählen und bezahlen dafür 66
Franken. Als Auftakt gibt's für uns beides - den Blattsalat von Madlaina,
dazu Ziegenfrischkäse von Jachen und Brotcrôutons (wunderbar knusprig
gebratenes Brot) und die kalte Melonensuppe (Melone gemixt) dazu Rohschinken
(auf einem Holzspiess aufgefädelt). Dann der Teller: entweder das Engadiner
Lammragout, dazu Thymianpolenta (göttlich) und Bohnen, oder vegetarisch:
die Penne Mama Rosa mit gebratenen Auberginenwürfeli. Suplement wird
offeriert, wo gibt es das noch? Nach unserer heutigen Leistung sind wir
jedenfalls nicht abgeneigt. Dazu wird der heutige Lieblingswein offeriert, das
Glas (1 Dezi) für einen freundschaftlichen Fünfliber.
Zum Nachklang gibt's wieder Auswahl, entweder den Bio Pecorino aus Tschlin,
dazu eingelegte Trauben oder die Griessköpfli und Apfelsorbet dazu….
zum vorherigen Tag | 29. Juli 20125 | zum nächsten Tag |