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In der Nacht hat es geregnet und vielleicht ist man gut beraten, wenn man die Regensachen nicht zu tief unten im Rucksack versteckt.
Auf dem Bänkli vor unserem Haus sitzt ein durchnässter, zitternder, älterer Mann und raucht eine Zigarette. Er ist eben vom Vereinapass her gekommen, wo er die Nacht im Freien verbringen musste, weil es ihm vor der Dunkelheit nicht mehr ins Berghaus gereicht habe. Er scheint mir ein bisschen ein komischer Kauz zu sein. Von Biel sei er und sicher hat er seine Kräfte überschätzt. Bis hierher und nicht weiter. Leon aus Biel will den Wirt nun fragen, ob er ihm das Vereinataxi bestellt. Immerhin bekommt er einen heissen Kaffee, aber trinken muss er ihn draussen, denn seine Zigarette will er nicht aus dem Mund nehmen.
Es beginnt wieder zu schiffen, aber bis wir um halb neun starten, reisst es auf und ich habe ein Hüttenbild mit blauem Himmel. Bis wir auf unserem Weg hinein ins Süsertal kommen, zwingt uns die Sonnen, welche ab und zu durch die Wolken, die sich noch um die Unghürhörner tummeln, bereits zu einem Tenuefez. Pascal hat wieder seine Rucksack-Waage mit dabei und auch ich will nun wissen, wieviel ich da neun Tage lang auf dem Buckel mitschleppe. 9,4 Kilo, mit frisch aufgetankten Flaschen, da bin ich ja direkt stolz. Immerhin habe ich etwas gelernt seit meiner ersten Wanderung, als ich es nicht unter 14 Kilo schaffte.
Mehr oder weniger sanft ansteigend zieht sich das Süsertal dahin. Überall blüht nun bereits der blaue Eisenhut und im kiesigen Grund neben dem Bach Iva, die Moschus-Schafgarbe für den Schnaps. Eine ganze Wiese voll "Chutzbuebe", wie ich die verblühten Schwefelanemonenköpfe nenne, glänzen in der Morgensonne und ganz zuhinterst im Tal weiden da einfach Pferde. Wunderschöne Pferde mit blonden und schwarzen, wehenden Mähnen und Schwänzen und fressen genüsslich die kratzigen Disteln. Ab und zu verliert sich der Weg auf der Weide, aber am nahen Steilhang kann man sich gut an den weiss/roten Zeichen orientieren, die senkrecht stehend immer steiler und höher an grossen Felsen angebracht sind, bis man den höchsten Punkt erreicht hat, wo man vorher nur noch Himmel sah. Nur, an dieser Kante geht's erst mal über einen Bach und ein Schneefeld flach weiter. Flesspass heisst es hier und an lieblichen Seen weiden braune Kühe.

beim Abmarsch ist wieder blauer Himmel Pferdeweiden im Süsertal die Stunde der Wahrheit - 9.4 Kilo über den Süserbach Margritenwiese am Flesspass

Wir schreiten durch eine mit Margriten übersäte Wiese. Viel weiter hinten in diesem Hochtal dann der Passübergang. Direkt dahinter türmen sich die nackten, massigen Felsen des Piz Linard und je näher wir dem Pass kommen, desto mehr gibt der Piz von seiner bizarren Statur unseren Blicken frei. Links von ihm erscheinen zwei kleinere Hörner, der Piz Sagliains und der Piz Zadrell, welche zwischen sich einen breiten, flachen, hellblau schimmernden Gletscher einrahmen.
Malerisch liegt zu unseren Füssen knapp vor der Kante ein kleiner See, dessen Abflusswasser sich durch Geröll und Gestein seinen Weg hinunter ins Tal sucht, um sich dort mit den Wassern des Gletschers zu vereinen.

der Piz Linard taucht auf Kerners Läusekraut eigentlich ist hier der Passübergang der See am Vereinapass und Piz Linard gegenüber Gletscher und noch mehr Hörner

Den höchsten Punkt haben wir noch vor dem See überschritten, aber erst hier an der Kante gibt uns ein Wegweiser die Erlaubnis zum wohlverdienten Gipfelkuss: ‚Pass dal Vereina 2585 m'. Es muss gerade noch reichen für ein Gipfelfoto, bevor wir uns ein geschütztes Picknickplätzchen aussuchen, denn in den nassen, verschwitzten Hemden fühlt sich der Wind nämlich eisig an und er bläst von der Engadiner Seite her ziemlich dunkle Wolken in das unter uns liegende, schier endlos scheinende Tal.

am Pass dal Vereina 2585 m Gletscher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis) juhui - Schnee Frühlings-Enzian und Miere etagenweise tiefer

Also machen wir uns bald auf den Abstieg, zuerst über ein schönes Schneefeld. Für Hans wäre es Juhui, wie für mich auch, dann kommen fast Kletterpartien über die Felsen hinunter, bis wir am Bach dann eine längere Zeit eher ebenaus dem Wässerchen folgen können, bis die nächste steile Stufe eine Etage tiefer ins nächste Hochtal führt. Ein starker Fallwind reisst uns die Mütze vom Kopf und hetzt uns vorwärts. Das Wässerchen neben uns wird zum tosenden Bergbach und beruhigt sich dann unten, genau wie der Wind und munter schlängelt es sich weiter durch hüfthohes Gras und Weideröschen und die ersten Erlengebüsche. Zum Wandern ist es wunderschön, aber man muss sehr aufpassen, dass man nicht in vom Gras versteckte Löcher tritt. Ausserdem beginnt es jetzt auch zu regnen, was die Steine jetzt glitschig macht. Wir sind nun bei der nächsten felsigen Stufe angelangt, welche aber ganz neu mit Treppenstufen und einer Kette gesichert wurde. Zum Glück besinnt sich das Wetter und leert wohl sein Nass etwas weiter hinten im Tal aus. Endlich kommt das Tal in Sicht und man sieht gemähte Wiesen. Vor dem ersten Haus, das am Weg liegt, plätschert verlockend ein Brunnen, an welchem wir uns erlauben, die leeren Flaschen nochmals aufzufüllen.

durch hüfthohe Blumenwiesen ...dann Erlengebüsch die nächste Stufe mit Treppen verlockender Brunnen im Vorgarten Hotel Piz Linard in Lavin

Bald ist es nicht mehr so steil und wir erreichen die Fahrstrasse, welche aber noch auf zweieinhalb Kilometer unseren wackeligen Knien und müden Beinen zusetzt. 1150 Meter Abstieg heute waren nicht ganz ohne!
Wir sind gerade noch hundert Meter vom Hotel Piz Linard entfernt, als wie beim Eintreffen im Furgglis, die Schleusen geöffnet werden.
Aber auf uns wartet eine richtig schöne Unterkunft. Ein Zweier- und ein Viererzimmer mit Dusche und WC. Logischerweise bekommen Rainer und Irene das Zweierzimmer, während Pascal, Herbert, Knud und ich die beiden Räume im Viererzimmer beschlagnahmen. Pascal und Herbert müssen sich das Ehebett und das einzige Duvet darauf teilen, während Knud und ich im hinteren Raum immerhin jedes sein eigenes Bett hat. So kann man nach einer wunderbar warmen Dusche die malträtierten Beine hochlagern, bis es Zeit zum Essen ist. Auf ein gediegenes Dinner wird hier Wert gelegt und entsprechend erwartungsvoll finden wir uns um sieben Uhr im grossen, mit Arvenholz getäferten Esssaal ein. Für 160 Franken mit Halbpension können wir ja wirklich etwas Spezielles erwarten. Es ist die einzige Unterkunft hier in Lavin. Alvernativ hätte man von hier mit dem Zug nach Zernez oder Susch fahren müssen, doch angesichts meiner müden Beine, die sich beinahe weigern, mich nach dem Nachtessen noch die drei Treppen hoch zu hieven…. Pascal hat das schon gut gemacht.
Ausserdem passt es zum Motto der diesjährigen Sommerwanderung mit kulinarischen Höhenflügen.
Aus den sechs auf der Karte aufgelisteten Gängen, können wir als Hotelgäste mit Halbpension vier auswählen und bezahlen dafür 66 Franken. Als Auftakt gibt's für uns beides - den Blattsalat von Madlaina, dazu Ziegenfrischkäse von Jachen und Brotcrôutons (wunderbar knusprig gebratenes Brot) und die kalte Melonensuppe (Melone gemixt) dazu Rohschinken (auf einem Holzspiess aufgefädelt). Dann der Teller: entweder das Engadiner Lammragout, dazu Thymianpolenta (göttlich) und Bohnen, oder vegetarisch: die Penne Mama Rosa mit gebratenen Auberginenwürfeli. Suplement wird offeriert, wo gibt es das noch? Nach unserer heutigen Leistung sind wir jedenfalls nicht abgeneigt. Dazu wird der heutige Lieblingswein offeriert, das Glas (1 Dezi) für einen freundschaftlichen Fünfliber.
Zum Nachklang gibt's wieder Auswahl, entweder den Bio Pecorino aus Tschlin, dazu eingelegte Trauben oder die Griessköpfli und Apfelsorbet dazu….

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