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Noch ist niemand vom Hotelpersonal auf, aber man hat für uns alles bereit gemacht. Thermoskrüge voll heisses Wasser und trotzdem noch einen Wasserkocher. Wir sind jetzt zu fünft plus Hund, die sich um sieben Uhr in Richtung Redortapass und Schnee von den andern verabschieden, welche es sich nicht nehmen lassen, uns zu winken. Abschied schon wieder von Käthy und Hansruedi, denen zu Hause andere Aufgaben rufen. Man will noch das Verzacatal erleben und will sich auch beizeiten auf den Weg machen, um am Vormittag dem Fluss entlang zu wandern. Es gibt nur ein Postauto, welches am Mittag hier abfährt, mit dem man auf einer halben Weltreise über Locarno bis am Abend nach Prato im Val Lavizzara, der Fortsetzung des Maggiatals, gelangt. Sie haben insistiert, dass wir ihnen alles Unnötige aus dem Rucksack mitgeben sollen, aber ich habe ja nur das Allernötigste dabei, und das brauche ich, ausser vielleicht die Ersatzwäsche und den Seidenschlafsack. Margrit hat ihren Rucksack bewusst halb leer, denn sie will mit dem Postauto fahren.
Munter marschieren wir los, den Monte Zucchero in der erstrahlenden Morgensonne im Visier, bis zum Parkplatz, wo der Bergweg beginnt. Natürlich setzt sich meine Dampfwalze schon nach den ersten Schritten bereits in Betrieb und Hans bedeutet mir, nicht zu sprechen. Nicht mal Herbert auf den schönen Schmetterling aufmerksam machen darf ich, und schon legt Hans seinen Zeigefinger an die Lippen. Jedes Wort koste einen Schritt. Dabei gilt das vielleicht für Männer, Frauen beflügelt es doch! Wie heisst es? Ein Mann ein Wort - eine Frau ein Wörterbuch!
Es ist schön, in den Morgen zu wandern. Ein felsiger Riegel türmt sich wie eine Arena vor uns auf. Von überall stürzen sich rauschende und schäumende Bäche über Kanten und Felsrinnen hinunter, als wollten sie sich beeilen, nun endlich mit dem vielen Schnee, der noch weit in den Frühling hinein gefallen ist, endgültig aufzuräumen. Der Aufstieg zur bewirtschafteten Alp Püscen Negro ist recht steil und das Wörterbuch verstummt von alleine. Beim ersten Stundenhalt muss ich mir bereits meine Flasche mit dem eisig kalten, erfrischenden Wasser aus dem Bach nachfüllen. Nach anderthalb Stunden haben wir die Alp, das winzige Dörfchen aus Steinhäusern, welche von Ziegen bewohnt sind, erreicht und die ersten 400 Höhenmeter überwunden. Von hier aus ist jetzt klar, welcher Einschnitt im langen Felskranz des Corona di Redorta über uns nun der Übergang ist, den wir anpeilen müssen. Wir kommen schon ins Gebiet der Alpenrosen. Vielleicht hat es ja auch Edelweiss, aber da würde ich ganz fies jetzt nur ein Foto machen und Hans nicht darauf aufmerksam machen. Eine Makroaufnahme von einer schönen Paradieslilie dient meinem Zweck auch. Bei der nächsten Rast frage ich nun ganz scheinheilig, ob er das Edelweiss gesehen habe. Natürlich nicht und ich habe das edle Weiss jetzt nur hier auf meinem Chip, da ich ja nicht reden darf! Jetzt macht er mir doch "mejmej!"
Es geht nun schon bald gegen Mittag und langsam steigen wir immer steiler bergan. Wenn ich für mein Profil den richtigen Weg erwischt habe, müssen wir wahrscheinlich jetzt noch die glatte Felswand erklettern. Aber nach dem steilen Schneefeld im Couloir, findet sich immer wieder ein Streifchen, welches die Schritte unter immer lauter werdendem Keuchen und Prusten den rot/weissen Markierungen entlang immer höher hinauf lenkt. Ich mache einfach so langsam, wie Annigna mich gelehrt hat: der Schritt und der Atem müssen im Einklang bleiben; kommt der Atem nicht mehr mit, werden die Schritte halt noch kleiner. Worte haben nun definitiv keinen Platz mehr.
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Ich glaube Hans hat den Pass erreicht, denn jetzt sehe ich ihn zu mir herunter steigen. Ohne Rucksack. "Nein - mein Rucksack ist nicht das Problem, der ist sowieso angewachsen und den gebe ich nicht her!" Ich habe aber null Chancen. Wie hat das bloss Vreni jeweils gemacht? Es fehlen jetzt nur noch ein paar Höhenmeter und auch Klaus ist am Verpusten. Auch er scheint mit der Sauerstoffversorgung im Blut ein bisschen Mühe zu haben. Aber weiter geht's. Erst beim Blick zurück übers Tal sehe ich die vielen, blühenden Schwefelanemonen, in die ich mich fast gesetzt hätte. Die lassen mich gerade den ganzen Stress vergessen und natürlich muss ein Foto her! Jetzt nur noch die letzten paar Meter. Auch ohne Rucksack komme ich einfach fast ins Japsen und jetzt bekomme ich auch noch den Krampf in den Oberschenkelmuskeln. Doch gottseidank, es ist geschafft!! Es ist ziemlich genau zwölf Uhr, als ich mich auf einen Stein inmitten gelber Schwefelanemonen plumpsen lassen kann. Fünf Stunden sind wir nun unterwegs, haben wohl knapp die Hälfte des Weges und unten in Sonognio war 6 ½ Stunden bis nach Prato am Wegweiser angeschrieben!
Für mich ist es immer wieder wie ein kleines Wunder, wie schnell sich der Körper regenerieren kann. Ein knappes halbes Stündchen Mittagsrast, ein paar Brikettli nachschieben, damit das Feuerchen wieder brennen kann und voll frischem Mut und Tatendrang nehmen wir uns die 23 Schneefelder vor, die uns auf der Rückseite des Durchgangs erwarten. Der Hund flippt aus, so schönen Schnee, mitten im Sommer!!! Nach einem nur kurzen, mässig steilen Abstieg wendet sich der gut sichtbare Weg fast auf gleicher Höhe nach links, bis er weit drüben dann in uneinsichtbaren, gähnenden Tiefen verschwindet. Schnee hat es hier keinen mehr, nur eine Menge Wasser und Wässerchen, welche sich auch ihren Weg durch den mit Erlengebüsch überwachsenen Abhang in die Tiefe suchen. Was sich aber unsern Blicken dort unten eröffnet, löst doch eher ein mulmiges Gefühl aus. Von allen Hängen sind unzählige Lawinen ins Tal gedonnert und füllen die ganze Talsohle mit einer einzigen, riesigen, betonharten Schneemasse aus. Sie sind auch da gekommen, wo seit vielen Jahren keine mehr den Weg fand und haben zum Teil sogar alte Bäume mitgenommen. Mit dem wegschmelzenden Schnee wächst auf ihrer Oberfläche die Schicht von zermalmten und zersplitterten Baumstämmen, Felsgestein und Erdreich.
Ein Stück weit können wir über diese Schnee- und Holzmassen, die natürlich auch den Wanderweg verschlungen haben, abkürzen. Hans findet den Anschluss zum Pfad, noch bevor es weiter unten wegen den unberechenbaren Brücken, die das Wasser unter dem Schnee herausfrisst, zu gefährlich wird. Einmal müssen wir eine solch heikle Stelle passieren, wo ein Seitenbach sich einen Tunnel in den Lawinenkegel gefressen hat.
Der Weg ist jetzt nicht mehr so anstrengend und führt lange durchs Val di Pertüs. Weit vorn sieht man Häuser eines kleinen Alpdörfchens, wo der Weg sich dann nach Westen wendet. Während wir unsere Beine im Gras zwischen verfallenem Gemäuer einen Moment ausruhen, verkündet Klaus, seinen Höhenmesser konsultierend, dass wir immer noch fünfhundert Meter Abstieg vor uns haben. Wir sind nun bereits achteinhalb Stunden unterwegs und ich wäre bald reif, am Ziel zu sein. Aber nichts da - noch ist Akrobatik gefordert, denn ein grosser und viel Wasser führender Bach ohne Brücke verlangt fast seiltänzerisches Können, um trockenen Fusses auf die andere Seite zu kommen.
Im Dörfchen Predee hat es manch schmuckes, zurechtgemachtes Rustico und auch ein kleines Kapellchen und natürlich immer wieder die Bildstöckli am Weg und in den Fassaden integrierte Heiligenbilder. Von Prato führt nun ein Fahrweg hier herauf. Das Tosen wilder Bäche übertönt die abgeschiedene Ruhe. Ihre Kraft hat den Ort seit Jahrtausenden geprägt. Links und rechts umfliesst ihn Wasser, welches sich über grosse Felsplatten imposante Wasserfälle und ausgefressene Schluchten geschliffen hat. Auch hier unten liegt noch viel Holz und auch Schnee von den Lawinen. Bei der Rinne eines Seitenbaches musste man die Fahrstrasse freifräsen, und zwischen grossen, ausgeschmolzenen Torbogen plätschert jetzt das Wässerchen unter dem restlichen Lawinenkegel hervor. Es sieht aus wie ein tropfendes Gletschertor.
Auf dem Fahrweg kommt man jetzt zügig voran und die Beine laufen uns davon. Die langen von Herbert und Knud am schnellsten. Sie haben glaub Stalldrang. "Wir haben noch Wind in den Haaren, den Wind von Bergen und Seen..." Wie bei jeder Rast, will ich testen, ob es noch geht. Aber so wie sich die Beine verselbständigt haben, tönt auch mein Schwanengesang, es geht nicht mehr. Ich bin einfach müde. Um halb sechs erreichen wir Prato. Alles ist gut gegangen, sieht man von den zwei Stürzen Herberts ab, welche ihm zum Glück "nur" je einen Schranz im Rucksack und in seiner Wanderhose beschert haben. Wir werden von Lykke-Lise und Annigna abgeholt. Auch letztere hat ihren Arm eingebunden, weil sie von dem Erdbeerenüberfluss für Morgen zum Frühstück sammeln wollte. Der schwere Rucksack hat sie umgehauen, aber gottseidank auch da - nichts gebrochen! Vor einer Stunde sind sie im Ristorante Lavizzara angekommen und waren dafür besorgt, dass auch ich am Schluss noch ein Bett bekomme. Ich habe nicht daran gedacht, dass man Lisbeth noch anmelden sollte. Sie haben nämlich hier nur 10 Betten, aber man konnte es managen, dass wir drei Einzelfrauen nun mit einem Notbett ein Dreierzimmer beziehen können. Es ist jetzt ein bisschen eng, aber wir haben feudal ein eigenes Badezimmer und ich und meine Beine geniessen eine herrliche Dusche.
Und anschliessend wird gefeiert. Knud hat ihn wirklich auch jetzt wieder mitgetragen, den bereits legendären Gamal Dansk, mit dem wir nun zum siebenten Mal mit ihm auf einer Sommerwanderung anstossen.
Die Verzasca-Wanderer haben auch einen wunderschönen Tag erlebt. Niemand ging von Sonogna aus direkt auf den Bus, denn da sie so früh auf waren und uns noch winken mussten, machten sich alle, mit zum Teil von unseren Utensilien angereicherten Rucksäcken auf den Weg der Verzasca entlang, Tal abwärts. Lisbeth fand bald heraus, dass es sich mit einem Mehrtagesrucksack noch ganz gut wandern liess und freute sich unterwegs an Details, welche sich auf einer Velotour nicht so hautnah auskosten lassen. Zusammen mit Hanspeter fand sie bald ihr Tempo und die beiden eilten voraus und kamen bis nach Lavertezzo, wo sie in das Postauto einstiegen, welches die andern eine Station früher gemütlich erreicht hatten. Diese hatten neben vielem anderem ein Museümli besucht und beinahe einen Kurs gebucht, wo man Speckstein zu bearbeiten lernt.
Den einen reichte die halbe Weltreise mit dem Postauto das ganze Maggiatal hinauf noch nicht und sie fuhren noch weiter bis Mogno, um bereits heute die Botta-Kapelle, welche eigentlich erst morgen auf unserem Programm steht, zu besuchen. Sie konnten so rekognoiszieren, dass die Zeit dazu gerade reicht, bis das Postauto von der Endstation in Fusio wieder zurück kommt.
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