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Ein kalter Wind bläst beim Abmarsch um die Hütte und unsere Ohren. Was verheissen uns die Wolken am Himmel wohl? Das Profil für die heutige Tour weist einen moderaten Aufstieg von etwa 250 Metern bis zum Passo Quadrella auf und die Gesamtmarschzeit bis Campo etwa zweieinhalb Stunden. Alles in allem doch sicher eine angenehme Tagesetappe. Da spielt es wohl auch keine Rolle, wenn wir bei der Abzweigung jenen Weg nach Cimalmotto einschlagen, der bis zum Pass eine Viertelstunde länger dauert. Es gibt bereits einige Bächlein zu überqueren, in deren Rinnen sich immer noch letzte Schneereste festhalten. Dann stürzen sich nicht nur die Wasser in die Tiefe, sondern auch unser Weg windet sich im Zickzack einen Waldabhang hinunter. Dabei habe ich für mein Profil doch einen fast ebenen Höhenweg herausgezeichnet. Aber vielleicht liegt auf jenem ja noch zuviel Schnee. Unten im Tobel angelangt, weist ein von einer Lawine arg zugerichteter Wegweiser in einer Stunde nach Bosco Gurin und in zweieinhalb Stunden den gegenüberliegenden Hang wieder hinauf, über den Passo Quadrella nach Cimalmotto. Noch ist hier die ganze Mulde ausgefüllt mit einem grossen Lawinenkegel und trotz allen Anstrengungen kann man am ganzen Hang nichts von den weiteren Wegmarkierungen finden. Der Wegweiser nach Bosco Gurin zurück scheint es Hanspeter angetan zu haben. Er will uns hier wieder mal verlassen. Genug Sommerwanderung für dieses Jahr, dabei hat sich das Wetter seit heute Morgen ganz ordentlich gebessert. Er hilft noch den Stock von Marie-Louise zu fixieren und dann ab durch die Mitte und für uns gilt's frisch auf, zur Bezwingung der Lawine.
Wenn das Schneefeld keinen gefährlichen Auslauf hat wie hier, steige ich im Schnee noch gerne auf. So können wir fast die Direttissima nehmen. Wir kommen zwar schnell höher und klettern bald durch Alpenrosenstauden und Erlengebüsch, können aber nirgends Anzeichen des Weges finden. Während Hans in zwei, drei Richtungen zu erkunden sucht, sitzen wir abenteuerlich am Fusse eines Felsbandes in den Stauden und schauen mit leichtem Grauen den Abhang hinunter, aus welchem wir heraufgekraxelt sind. Unvorstellbar, wenn wir hier wieder zurück müssten! Auch unvorstellbar, dass Klaus eine Chance hätte, wollte er seine Sonnebrille suchen gehen, die ihm beim Klettern durchs Gebüsch aus der Brusttasche gefallen ist.
Bald kommt Hans jetzt ohne Rucksack zurück und hilft uns über den kleinen Felsriegel weiter. Er hat es gefunden! Erleichtert passieren wir noch ein flacheres Schneefeld und haben den Pass erreicht. Noch nie habe ich so dankbar meine Gipfelküsse verteilt! Es ist inzwischen fast zwölf Uhr geworden und wir suchen uns auf der andern Seite des Übergangs ein windgeschütztes Plätzchen für unsere wohlverdiente Mittagsrast. Zwei Biker mit geschulterten Stahlrössern, vielleicht sind sie eher aus Aluminium, fragen uns, wie der Weg zur Grossalp aussehe, aber wir empfehlen ihnen eher nicht jenen zu nehmen, den wir gekommen sind. Sie kommen von der Alpe d'Arena her und wenn's für uns morgen über den Passa della Cavegna geht, würden wir ihre Spuren auf dem grossen Lawinenkegel dann gut sehen. Ja - "mir sind mit em Velo da...". Also einen Rucksack zu buckeln scheint mir doch noch bequemer zu sein.
Von hier sieht man gut unser heutiges Ziel, 800 Meter weiter unten, aber immer noch auf einem Alpbödeli: Cimalmotto und Campo. Wenn man genau hinsieht, kann man sogar die Kreuzwegstationen, wie eine Rosenkranzkette hingelegt, von der Kapelle im Dorf bis hinauf zur Kirche, ausmachen.
Der Himmel ist wieder etwas bedeckt, weniger für Postkartenfotos, dafür wunderbar zum Wandern. Etwa bei der Waldgrenze erreichen wir die erste Ansammlung von Alphütten. Auch hier wieder neben Ruinen ein paar Ställe und auch gut ausgebaute Rustici. Aber auch hier fehlt ein gut zurechtgemachtes Bildstöckli mit einer Madonna nicht. Irgendwie begreift man, dass sich die Menschen an irgend etwas festhalten möchten, das ihnen in dieser rauhen Welt Schutz verspricht. Wenn man mit dem Vieh wieder heraufkommt, ist nicht immer sicher, ob die Hütte noch steht oder man nur noch Mauernreste vorfindet. Auch dieses Jahr muss zuerst noch sehr viel Lawinenholz aus dem Weideland entfernt werden. Sicher auch eine enorme Arbeit. Und es gibt Mitmenschen, welche es wohl geil finden, aus einer mühevoll in einen grossen Felsen hineingemeisselte kleine Grotte die Marienstatue zu stehlen. Auch weiter unten ist eine zu diesem Zweck ausgeschmückte Baumhöhle einfach leer!
Viertel vor drei ist's, wie wir aus dem Wald herauskommen und laut Wegweiser bis Campo nun noch 20 Minuten. Dies zwar zum Teil auf der Teerstrasse, aber auch ein Stück durch eine wunderschöne, mit blühenden Paradieslilien übersäte Wiese. Zuerst kommen wir aber noch durch Cimalmotto, vorbei an der geschlossenen Kirche. Was diese wohl im Inneren birgt, wenn schon der überdeckte Eingang draussen so üppig mit Statuen und Engeln ausgeschmückt ist. Sie sind so realistisch gemalt, dass man fast ihr Geflatter zu hören meint. Ein Blick auch auf den winzigen Friedhof mit seinen uralten Grabstätten. Ehrenplätze der Grabplatten an der Kirchenwand zeugen vom Einfluss der Familie Pedrazzini über mehr als ein Jahrhundert hinweg.
Noch ist nicht vier Uhr und wir können unser heutiges Logis im schön renovierten Hotel Porta in Campo beziehen. Herbert bekommt mit seinem Hund sogar eine ganze Maisonettwohnung in der Dependance.
Bis zum Nachtessen reicht es mir noch für eine Erkundung des Kreuzwegs bis zur Kirche auf der Höhe. Die Bilder in den Stationen sind zum Teil zerstört und konnten wohl bei der Restauration nicht wieder hergestellt werden. Zwei Stationen haben mit einem Mosaikbild überhaupt ein ganz neues Kleid erhalten. Über den Friedhof komme ich zur Kirche, wo eine Nebentür offen steht, das Kirchenschiff selber jedoch ist mit Baugerüsten ausgefüllt. Stimmen von Arbeitern dringen aus dem Rohrstangengewirr, sehen kann man überhaupt nichts. Heimlich getraue ich mich in das Nebenschiff einzutreten, wo kein Gerüst steht und ich fasziniert die sagenhafte Kassettendecke bestaunen muss. Allerdings ist sie in einem erbärmlichen Zustand. Die ganze Kirche scheint auch hier voller Gemälde zu sein. Prunkvoll bemalte Fassaden auch unten im Dörfchen, aber grosse Risse in den Mauern und ein windschiefer Glockenturm auf einem wie ein Kloster anmutender Gebäudekomplex. "A vendere" steht da und dort angeschrieben.
Mit meinem Bild der Kassettendecke auf dem Chip habe ich nun die andern auch gwundrig gemacht und zusammen wallfahrten wir nochmals zur Kirche empor. Nun haben sie gerade Feierabend und der Arbeiter will gerade abschliessen. Betreten der Baustelle sowieso verboten. Aber wir wollen ja nur nochmals die Decke bestaunen und ich frage, ob diese auch renoviert wird. Aber resigniert schüttelt er den Kopf. Das koste viel zu viel und die Strasse müsse gemacht werden, das sei allein auch schon viel zu teuer. Ich meine verstanden zu haben, dass er pensioniert sei und sich nun an den Restaurationsarbeiten in der Kirche beteilige. Es scheint, dass die Kirche ein wertvolles Deckengemälde birgt, welche zusammen mit der Kirche von Zillis und Santa Maria im Calancatal genannt wird, aber mit einem hoffnungslosen Achselzucken bemerkt der Mann, dass wegen einstigen Rodungen der Wälder das ganze Gebiet den Hang hinunter rutsche.
Seit der Jahrhundertwende um 1900 ist die Kirche mehr als sechseinhalb Meter eingesunken und im selben Zeitraum sogar siebenundzwanzig Meter Richtung Osten gewandert. Drüben am Abhang Richtung Cimalmotto sieht man die Spuren von frisch in die Schlucht hinunter gerutschtem Gestein. Eine Frage der Zeit, bis Cimalmotto auch unten in der Rovana landet?
Zum Nachtessen gibt's im gediegenen Esssaal heute nun schon zum vierten Mal Polenta (dafür können sie ja nichts, und sie ist gut!). Man reisst sich hier ein Bein aus, um unseren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Man hat uns Brot, Reis, Gemüse und Äpfel organisiert, damit wir unser Nachtessen, das wir morgen selber kochen müssen, erst von hier aus mittragen müssen. Hans bekommt eine Spezialration Polenta als Wegzehrung, sicher ein Kilo, schön verpackt.
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