zum vorherigen Tag Sonntag, 20. Juni 2010 zum nächsten Tag

Der Blick aus dem Fenster ist nicht sehr ermunternd. Noch immer regnet es und es liegt ein Schäumchen Schnee. Die weitere Umgebung wird immer wieder verhüllt vom Kommen und Gehen des hier herumwallenden Nebels.
Die junge Frau hat sich nun entschieden, umzukehren und schöneres Wetter abzuwarten.
Die Variante mit dem Zug zurück und über Engelberg hinauf auf die Fürenalp, an unser heutiges Ziel zu gelangen, ist noch offen. Da aber Hans guten Mutes ist und wir alle wasserdicht verpackt sind, wagt es auch Marie-Louise, obwohl ihr Bauch ein bisschen rebelliert. So sind wir sechs mehrheitlich rote, drei schwarze und ein grünes Buckelpack, welche nach einem reichlichen Müeslifrühstück hinter dem Haus im feinen Nieselregen auf dem schmalen Weglein den Grat hinauf unserm Abenteuer entgegen gehen.
Bald bläst der Wind, der nun bereits mit feinem Schnee vermischt ist, von beiden Seiten herauf um unsere Ohren und hat seine Freude an den flatternden Pelerinen.
Je höher wir kommen, desto mehr hat der Schnee das frische Grün der Gräser, Blätter und Blumen auf den Alpweiden wieder zugedeckt. Ab und zu sieht man in die Runde, hinunter ins Tal der Waldnacht oder auf die andere Seite ins Reusstal, aber nie hinauf zum Brunnistock oder dem Surenenpass. Hans hat letztes Jahr gesehen, dass man von hier einen Ausblick ins Gitschital und bis zum Urnersee haben könnte.

Start bei Z'graggen hinauf auf den Grat Buckelpakete der Surenenpass im Sommer hier kehren sie um

Man merkt, dass Marie-Louis nicht so fit ist, denn sie fällt immer wieder zurück, während die Vorderen langsam im Nebel verschwinden. Ein Wegweiser zeigt immer noch einen Aufstieg von dreihundert Metern an. Wir sind nun schon anderthalb Stunden unterwegs und nach einer kleinen Rast ist der Entschluss nun doch gefasst, sie geht lieber zurück und probiert mit Zug und Seilbahn auf die Fürenalp zu kommen. Vreni will sie nicht allein ziehen lassen und begleitet sie den langen Weg zurück. Klaus und Lisbeth haben es wegen dem schlechten Wetter sowieso vorgezogen, erst heute auch dort zur Gruppe zu stossen.
Langsam geht's nun wieder bergauf und wir erreichen auf einer kleinen Kante den Punkt 2004. Warum wohl hier die Wegweiser alle abmontiert sind? Ausgerechnet da, wo es wohl drauf an kommt! Langschnee heisst das Gebiet und der Hund freut sich sichtlich darüber, dass nicht nur er im tiefen Weiss einsinkt. Sich nach Wegmarken orientieren zu können, kann man glatt vergessen, denn kaum sind wir ein paar Meter ein bisschen den Hang hinunter gegangen, schliesst uns eine dicke Nebelsuppe ein und wir finden uns auch bereits wieder im Aufstieg. Links neigt sich das Gelände ins Ungewisse. Hans orientiert sich an seinem neuen Garmin. Wir sollten richtig liegen. Wir sind zwar immer noch an einem rechten Steilhang und nirgends bietet das Gelände eine Möglichkeit zum Wechsel auf die linke Seite an. Einmal, einen kurzen Moment meine ich einen Blick vielleicht hundert Meter auf die gegenüberliegende Seite erhaschen zu können, aber schon ist der Vorhang wieder zugezogen und der Blick verliert sich bereits wieder zwei bis drei Meter unter uns im steilen Schneefeld. Irgendwo in der Höhe hört man das Rauschen von Wasser. Also haben wir ganz sicher die Höhe noch nicht erreicht. Das neue Wunderding sollte uns doch richtig leiten, aber nein, es beginnt zu motzen. Seine Batterien gehen zur Neige! Das darf ja doch nicht wahr sein, aber bei dieser Kälte... Mit klammen Fingern und der Hilfe von Knud gelingt die Prozedur des Wechsels.
Wir steigen weiter auf! Die jungen Burschen haben nicht mitbekommen, was passiert und sie scheinen etwas beunruhigt. Wir müssen also darauf achten, ihnen zu übersetzen, dass Hans das Schneefeld lieber noch etwas höher oben queren will. Vorhin haben sie auch ganz besorgt nach den two ladies gefragt, als diese plötzlich nicht mehr bei uns waren.
Das Schneefeld ist ziemlich steil, aber der neue Schnee ist doch weich, dass man jeden Schritt gut treten kann. Knud, der hinter Hans geht, kann sich natürlich mit seinem sicher gut doppelten Gewicht nicht auf dessen Stapfen verlassen und stampft gewissenhaft jeden Tritt für sich zurecht. Trotzdem passiert es, dass er plötzlich verreist. Nicht schnell, aber es ist doch ein stetiges Rutschen und mir bleibt fast das Herz stehen. Weiss er, dass man versuchen muss, sich mit Händen und Füssen in den Schnee zu krallen? Er ist nur etwa drei oder vier Meter gerutscht und kann sich wieder hochrappeln. Nur nicht daran denken, wie weit die Fahrt hätte gehen können. Auch der Hund merkt instinktiv, dass er in unserer Spur am wenigsten versinkt. Vielleicht ist es gut, dass man nicht sieht, wie hoch wir sind. Dem Gefühl nach meine ich, dass wir in einem grossen Bogen bergan steigen. Aber kann man sich im Nebel schon auf das Gefühl verlassen? Wenigstens hört man das Rauschen des Wasser jetzt von unten.

im Langschnee bei Pt.2004
...wo sind wir? ausgerutscht sie verschwinden im Nebel an gleicher Stelle im Sonnenschein

Bald scheint der Nebel noch undurchdringlicher und dunkel zu werden. Sind wir schon in der Nähe der Felsen? Ich meine, mich anhand der Karte erinnern zu können, dass man den Pass über ein grosses, von Felsbändern begrenztes und wie eine Arena aussehendes Trümmerfeld erreicht. An Stellen, wo der tiefe Schnee etwas vom Wind verweht ist, spürt man den lebendigen Untergrund gut.
Einmal für einen kurzen Moment teilt sich der Nebel und offenbart uns, dass wir uns tatsächlich unterhalb einer grossen Felswand befinden. Also weiter hinauf geht's nicht mehr. Ich hoffe nur, dass das Zeug hier oben alles gefroren ist. Plötzlich teilt sich der Nebelvorhang und vor uns, diesmal etwa auf gleicher Höhe erscheint wie eine Fatamorgana der langgezogene Rücken des Passes mit dem gelb leuchtenden Wegweiser. Der Blick hinunter geht in eine bodenlose Schwärze oder vielmehr durch ein Loch im Nebel sieht man bis hinunter auf den Talboden der Waldnacht. Bis ich meinen Fotoapparat hervorgeklaubt habe, ist der Spuk schon fast wieder vorbei. Aber diese Erleichterung! Wir haben es bald geschafft und wir sind richtig!
Auch wenn es mehr oder weniger geradeaus geht, kommen wir nur langsam vorwärts. Manchmal sind die Vorderen aus dem Blickfeld verschwunden und immer wieder ist jemand am Rutschen. Zum Glück kann Kathrin gut Englisch und sie versteht es, den beiden jungen Burschen Vertrauen zu vermitteln. Wieder einmal ist Knud auf Abwegen. Bei jeder Bewegung droht er weiter abzurutschen. Obwohl ich nicht wüsste wie, probiere ich ihm doch zu Hilfe zu eilen. Wir finden einen Trick heraus, wie man mit dem Stock, unterhalb des Schuhs eingesteckt, wenigstens eine Hilfe beim Aufstehen hat. Dann suche ich mir weiter meine eigene Spur, bis ich weiter vorn wieder in die Stapfen von Hans und Annigna gelange. Einmal hebt sich der Nebel wieder für eine Sekunde und ein Blick zurück lässt mich beinahe ein bisschen erschauern. Fast wie hässlich grinsend sieht unsere in den Hang getretene Spur aus. Hätten wir damit eine Lawine anreissen können?

nicht nur lang, auch tief Blick in die Waldnacht Waldnacht bei Tag wir haben's geschafft! so sähe es aus!

Dann haben wir es endlich geschafft. Eins nach dem andern taucht aus dem Nebel auf und mit einer Riesen-Erleichterung werden unter dem vereisten und zugeschneiten Wegweiser die Gipfelküsse verteilt. Welch ein Abenteuer wieder! Und erst für unsere beiden Malaysischen Studenten! Zum Diplomabschluss seines Ingenieurstudiums in England schenkte sich Kevin diese Reise über die Via Alpina, welche sie von Sargans nach Montreux führt. Die Mutter vorbot ihm, allein zu gehen, darum suchte und fand er via Internet Gabriel. Wusste ich's doch, dass wir heute einen Engel mit uns hatten!
Die andere Seite des Passes erscheint viel heller, der Nebel viel lichter und man kann manchmal fast bis ins Tal hinunter sehen. In einer kleinen Schutzhütte, kurz nach dem Übergang können wir uns endlich eine kleine Pause gönnen. Wir hätten nie die Gelegenheit gehabt, den Rucksack auszuziehen und etwas zu essen oder zu trinken. Es ist inzwischen halb zwei Uhr geworden, laut Marschtabelle müssten wir ja schon bald in der Fürenalp sein, aber von hier sind es immer noch gute drei Stunden.
Schnee hat es nun auf dieser Seite etwas weniger, aber trotzdem driften wir noch einmal etwas vom Weg ab, bis wir etwas weiter unten wieder eine Wegmarkierung erspähen können. Schon hört man wieder Kuhglockengeläute und eine Gruppe von Rindern sucht sich mühsam zwischen dem Schnee etwas Futter. Es ist nun wirklich der Schnee von gestern und heute, welcher all die schönen Sumpfdotter- und andern Frühlingsblumen noch einmal zugedeckt hat.

auch sie sind glücklich Hans und Annigna 2009 Knud Eiszapfen-Hans auf dem Surenenpass

Im Blackenboden begegnet uns ein Ehepaar, welches nach dem Vieh schauen will. Gestern haben sie hier in der bewirteten Sennhütte ihre Sommersaison begonnen. Gerne kehren wir bei ihnen in der geheizten Stube zu einem heissen Tee ein, oder gar einem Kaffee fertig! Neugierig will auch Kevin einen probieren, aber ihn "strählts fasch hindere".
Hinter uns an der Wand hängt ein Bild mit dem Stier und dem Greiss aus der Surenensage. Das wäre ja jetzt die beste Gelegenheit, diese Geschichte vorzulesen und der Senn bestätigt, dass sich das Drama am Schluss hier auf dieser Alp zugetragen haben solle. Natürlich wird auch für unsere beiden Begleiter übersetzt, dass einst ein Hirtenknabe von Fremden ein äusserst begehrenswertes Lämmlein erbettelte und das er so heiss liebte, dass er fand, es sollte getauft sein. Also stahl er in der Kirche in Attinghausen Taufwasser. Kaum benetzte das Wasser die Stirn des Lämmleins, erbrauste ein Sturm in den Lüften und das niedliche Lamm verwandelte sich in ein furchtbares Ungeheuer, welches die Hütte zerschmetterte und seinen Meister tötete. Weder Mensch noch Vieh verschonte das Greiss fortan auf Surenen. Weder Engelbergern noch Urnern wollte die eigentlich schöne Alp mehr etwas nützen, bis einmal ein fremdes Männlein um zwei Gläser Wein seine Hilfe anbot. Es riet, ein silberweisses Stierkalb sieben Jahre lang, jedes Jahr von einer Kuh mehr säugen zu lassen, dann sei es fähig, das Greiss zu töten. So gut genährt, wurde alsdann ein junges Tier stark und gross und nach vier Jahren durfte wegen seiner Wildheit niemand mehr bei ihm sein. Darum schaffte man den Stier auf die Alp Waldnacht. Nach sieben Jahren nun sollte ihn, nach des Männleins Rat, die edelste und reine Jungfrau von da dem Greiss entgegenführen. Es ward eine gefunden, die es wagen wollte und sie rüstete sich vorher im Kloster auf den Tod. Viel Volk geleitete die weissgekleidete Jungfrau zum Stierengaden, wo sie den Stier an ihre Haarbänder knüpfen und über die Egge nach Surenen leiten musste. Erstaunlicherweise fügte er sich ohne Widerstreben. Er würde das Greiss von weitem wittern, worauf sie ihn losbinden und ohne sich umzuwenden zurückgehen solle. Bald darauf vernahm man schreckliches Gebrülle und eine Rauchsäule verfinsterte die Sonne. Als man an den Ort des Geschehens kam, war von der Jungfrau nichts mehr zu sehen und das Greiss war übel zugerichtet und tot. Der Stier lag ebenfalls tot im Bach, wohl weil er nach dem Kampf allzu gierig getrunken hatte. Seither nennt man das Wasser hier den Stierenbach und deshalb ist es ein Stier, der seither das Urner Wappen ziert. Der Ort hier auf der Blackenalp erscheint heute wirklich etwas unheimlich. Der reissende Bach, der sich am Ort des Geschehens durch riesige Felsbrocken hindurch schlängelt. Eine mächtige Grundlawine, welche die letzte Woche noch den Weg zugeschüttet hat und den man nun wieder ausfräsen musste. Eine kleine Kapelle versucht das Bild etwas zu besänftigen.

Lebenselixier... ...in der Schutzhütte im Eggen diese Seite ist etwas heller auf dem Ofenbänklein Gabriel, Kevin und Hans

Im Äbnet teilt sich der Weg und es war mir gar nicht bewusst, dass wir noch einen rechten Aufstieg vor uns haben. Wir sind wohl aus dem vom Funk abgeschnittenen Talkessel herausgetreten, denn mindestens drei Handys beginnen zu läuten. Bis ich meins herausgekramt habe, ist es aber schon zu spät. Jetzt läutet es bei Hans und er kann nun den beruhigenden Bericht endlich weitergeben, dass wir bis in einer halben Stunde auf der Fürenalp eintreffen werden. Da könnte man jetzt fast einen Stein platschen hören.
Zuerst müssen wir aber noch weitere Prüfungen bestehen. Es wird nicht nur vor der Weide mit Muttertierhaltung gewarnt, wo man mit Hund besonders vorsichtig sein muss, sondern der aufgeweichte Wanderweg, der für den Alpaufzug missbraucht worden ist, muss fast seiltänzerisch bezwungen werden, will man nicht im lehmigen Morast stecken bleiben.

der Ort des Geschehens Grundlawine von letzter Woche in der Lawine mit Akrobatik über den Morast endlich Fürenalp

Endlich zeichnen sich vor uns im Nebel die Umrisse eines Hauses ab. Wir haben es geschafft. Es ist inzwischen Viertel nach sechs geworden und wir haben für die vorgegebene Zeit von fünfeinhalb Stunden für diese Tour mehr als zehn gebraucht.
Der Empfang ist gewaltig. Marie-Louise und Vreni haben den Weg zurück glücklich überstanden und auf ihrer halben Weltreise über Luzern und Engelberg hat es für sie gar noch auf den Shuttle und die Seilbahn gereicht. Ums Haar wäre die Wirtin nach Hause gegangen, da sich die angemeldete Gruppe abgemeldet habe. So konnte man den Irrtum aufklären und sie begann dann in der Küche zu wirken. Auch Klaus und Lisbeth sind eingetroffen und haben inzwischen den nebligen Grotzliweg um die Fürenalp ausgekundschaftet.
Für unser nasses Zeug werden Wäscheständer herbeigeschafft und wir können alles hier in der Gaststube zum Trocknen aufhängen. Drüben im Lager gehe das nicht so gut und wir sollen lieber jetzt zuerst essen, damit man nicht nochmals hinaus muss.
Ausser Programm hat uns die Köchin noch eine Kohlräblisuppe gemacht und die Älplermakronen haben mir selten so gut geschmeckt. Alles ist hier mit viel Fantasie und Liebe zurechtgemacht. Auf den Tischen sind überall selbst gepflückte Blumensträusschen, sogar auf jedem Tritt auf der Stiege hinunter zu den Toiletten. Ich meine, Blüemlisalp wäre der passendere Name als Fürenalp. Auch der Dessertteller ist die absolute Spitze eines kreativen Meisterkochs. Glacé mit frischen Beeren wunderbar garniert und auf dem Tellerrand mit Puderzucker der Schriftzug "Fürenalp". Wir sind total begeistert.

als Belohnung gibt's... Aelplermakronen Meisterdessert auf dem Heustock... ...sogar mit Duvets

Beim gemütlichen Beisammensein klingt der Abend aus. Lieder werden noch zum Besten gegeben vom Holeduli bis zur Malaysischen Variante von Frère Jacques. Dann geht's hinüber ins Heu. Über ein schmales Holztreppchen gelangt man zuerst auf die Heubühne über dem Kuhstall. Dort schliesst sich ein Raum mit etwa acht Matratzenlager an, sogar mit Duvets! Dieser ist zwar noch nicht isoliert und hier müssen die beiden Jungs schlafen, die auf gut Glück hier nun auch nach Herberge gefragt haben. Unser Raum ist besser isoliert und im Lauf der Nacht wird es dank geschlossenem Fenster fast zur Sauna. Aber im Kuhstall zu schlafen, ist auch für mich ein Novum. Bis sich jedes in seinem Nestchen verkrochen hat, muss der Hund draussen beim Heustock warten, was ihm natürlich keineswegs passt, denn ihn beunruhigen die muhenden Kühe. Jene hingegen reagieren verärgert auf sein Bellen und erst, als er es sich am Schluss auf einer ausgebreiteten Zeitung im Gang zwischen den beiden Matratzenreihen gemütlich machen darf, gibt es Ruhe im Stall. Lange muss man mich heute nicht in den Schlaf wiegen und die Kuhglocken von unten begleiten mich durch meine Träume.

zum vorherigen Tag Sonntag, 20. Juni 2010 zum nächsten Tag