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Der Blick aus dem Fenster ist nicht sehr ermunternd. Noch immer regnet es und es
liegt ein Schäumchen Schnee. Die weitere Umgebung wird immer wieder
verhüllt vom Kommen und Gehen des hier herumwallenden Nebels.
Die junge Frau hat sich nun entschieden, umzukehren und schöneres Wetter
abzuwarten.
Die Variante mit dem Zug zurück und über Engelberg hinauf auf die
Fürenalp, an unser heutiges Ziel zu gelangen, ist noch offen. Da aber Hans
guten Mutes ist und wir alle wasserdicht verpackt sind, wagt es auch
Marie-Louise, obwohl ihr Bauch ein bisschen rebelliert. So sind wir sechs
mehrheitlich rote, drei schwarze und ein grünes Buckelpack, welche nach
einem reichlichen Müeslifrühstück hinter dem Haus im feinen
Nieselregen auf dem schmalen Weglein den Grat hinauf unserm Abenteuer entgegen
gehen.
Bald bläst der Wind, der nun bereits mit feinem Schnee vermischt ist, von
beiden Seiten herauf um unsere Ohren und hat seine Freude an den flatternden
Pelerinen.
Je höher wir kommen, desto mehr hat der Schnee das frische Grün der
Gräser, Blätter und Blumen auf den Alpweiden wieder zugedeckt. Ab und
zu sieht man in die Runde, hinunter ins Tal der Waldnacht oder auf die andere
Seite ins Reusstal, aber nie hinauf zum Brunnistock oder dem Surenenpass. Hans
hat letztes Jahr gesehen, dass man von hier einen Ausblick ins Gitschital und
bis zum Urnersee haben könnte.
Man merkt, dass Marie-Louis nicht so fit ist, denn sie fällt immer wieder
zurück, während die Vorderen langsam im Nebel verschwinden. Ein
Wegweiser zeigt immer noch einen Aufstieg von dreihundert Metern an. Wir sind
nun schon anderthalb Stunden unterwegs und nach einer kleinen Rast ist der
Entschluss nun doch gefasst, sie geht lieber zurück und probiert mit Zug
und Seilbahn auf die Fürenalp zu kommen. Vreni will sie nicht allein ziehen
lassen und begleitet sie den langen Weg zurück. Klaus und Lisbeth haben es
wegen dem schlechten Wetter sowieso vorgezogen, erst heute auch dort zur Gruppe
zu stossen.
Langsam geht's nun wieder bergauf und wir erreichen auf einer kleinen Kante den
Punkt 2004. Warum wohl hier die Wegweiser alle abmontiert sind? Ausgerechnet da,
wo es wohl drauf an kommt! Langschnee heisst das Gebiet und der Hund freut sich
sichtlich darüber, dass nicht nur er im tiefen Weiss einsinkt. Sich nach
Wegmarken orientieren zu können, kann man glatt vergessen, denn kaum sind
wir ein paar Meter ein bisschen den Hang hinunter gegangen, schliesst uns eine
dicke Nebelsuppe ein und wir finden uns auch bereits wieder im Aufstieg. Links
neigt sich das Gelände ins Ungewisse. Hans orientiert sich an seinem neuen
Garmin. Wir sollten richtig liegen. Wir sind zwar immer noch an einem rechten
Steilhang und nirgends bietet das Gelände eine Möglichkeit zum Wechsel
auf die linke Seite an. Einmal, einen kurzen Moment meine ich einen Blick
vielleicht hundert Meter auf die gegenüberliegende Seite erhaschen zu
können, aber schon ist der Vorhang wieder zugezogen und der Blick verliert
sich bereits wieder zwei bis drei Meter unter uns im steilen Schneefeld.
Irgendwo in der Höhe hört man das Rauschen von Wasser. Also haben wir
ganz sicher die Höhe noch nicht erreicht. Das neue Wunderding sollte uns
doch richtig leiten, aber nein, es beginnt zu motzen. Seine Batterien gehen zur
Neige! Das darf ja doch nicht wahr sein, aber bei dieser Kälte... Mit
klammen Fingern und der Hilfe von Knud gelingt die Prozedur des Wechsels.
Wir steigen weiter auf! Die jungen Burschen haben nicht mitbekommen, was
passiert und sie scheinen etwas beunruhigt. Wir müssen also darauf achten,
ihnen zu übersetzen, dass Hans das Schneefeld lieber noch etwas höher
oben queren will. Vorhin haben sie auch ganz besorgt nach den two ladies
gefragt, als diese plötzlich nicht mehr bei uns waren.
Das Schneefeld ist ziemlich steil, aber der neue Schnee ist doch weich, dass man
jeden Schritt gut treten kann. Knud, der hinter Hans geht, kann sich
natürlich mit seinem sicher gut doppelten Gewicht nicht auf dessen Stapfen
verlassen und stampft gewissenhaft jeden Tritt für sich zurecht. Trotzdem
passiert es, dass er plötzlich verreist. Nicht schnell, aber es ist doch
ein stetiges Rutschen und mir bleibt fast das Herz stehen. Weiss er, dass man
versuchen muss, sich mit Händen und Füssen in den Schnee zu krallen?
Er ist nur etwa drei oder vier Meter gerutscht und kann sich wieder hochrappeln.
Nur nicht daran denken, wie weit die Fahrt hätte gehen können. Auch
der Hund merkt instinktiv, dass er in unserer Spur am wenigsten versinkt.
Vielleicht ist es gut, dass man nicht sieht, wie hoch wir sind. Dem Gefühl
nach meine ich, dass wir in einem grossen Bogen bergan steigen. Aber kann man
sich im Nebel schon auf das Gefühl verlassen? Wenigstens hört man das
Rauschen des Wasser jetzt von unten.
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Bald scheint der Nebel noch undurchdringlicher und dunkel zu werden. Sind wir
schon in der Nähe der Felsen? Ich meine, mich anhand der Karte erinnern zu
können, dass man den Pass über ein grosses, von Felsbändern
begrenztes und wie eine Arena aussehendes Trümmerfeld erreicht. An Stellen,
wo der tiefe Schnee etwas vom Wind verweht ist, spürt man den lebendigen
Untergrund gut.
Einmal für einen kurzen Moment teilt sich der Nebel und offenbart uns, dass
wir uns tatsächlich unterhalb einer grossen Felswand befinden. Also weiter
hinauf geht's nicht mehr. Ich hoffe nur, dass das Zeug hier oben alles gefroren
ist. Plötzlich teilt sich der Nebelvorhang und vor uns, diesmal etwa auf
gleicher Höhe erscheint wie eine Fatamorgana der langgezogene Rücken
des Passes mit dem gelb leuchtenden Wegweiser. Der Blick hinunter geht in eine
bodenlose Schwärze oder vielmehr durch ein Loch im Nebel sieht man bis
hinunter auf den Talboden der Waldnacht. Bis ich meinen Fotoapparat
hervorgeklaubt habe, ist der Spuk schon fast wieder vorbei. Aber diese
Erleichterung! Wir haben es bald geschafft und wir sind richtig!
Auch wenn es mehr oder weniger geradeaus geht, kommen wir nur langsam
vorwärts. Manchmal sind die Vorderen aus dem Blickfeld verschwunden und
immer wieder ist jemand am Rutschen. Zum Glück kann Kathrin gut Englisch
und sie versteht es, den beiden jungen Burschen Vertrauen zu vermitteln. Wieder
einmal ist Knud auf Abwegen. Bei jeder Bewegung droht er weiter abzurutschen.
Obwohl ich nicht wüsste wie, probiere ich ihm doch zu Hilfe zu eilen. Wir
finden einen Trick heraus, wie man mit dem Stock, unterhalb des Schuhs
eingesteckt, wenigstens eine Hilfe beim Aufstehen hat. Dann suche ich mir weiter
meine eigene Spur, bis ich weiter vorn wieder in die Stapfen von Hans und
Annigna gelange. Einmal hebt sich der Nebel wieder für eine Sekunde und ein
Blick zurück lässt mich beinahe ein bisschen erschauern. Fast wie
hässlich grinsend sieht unsere in den Hang getretene Spur aus. Hätten
wir damit eine Lawine anreissen können?
Dann haben wir es endlich geschafft. Eins nach dem andern taucht aus dem Nebel
auf und mit einer Riesen-Erleichterung werden unter dem vereisten und
zugeschneiten Wegweiser die Gipfelküsse verteilt. Welch ein Abenteuer
wieder! Und erst für unsere beiden Malaysischen Studenten! Zum
Diplomabschluss seines Ingenieurstudiums in England schenkte sich Kevin diese
Reise über die Via Alpina, welche sie von Sargans nach Montreux führt.
Die Mutter vorbot ihm, allein zu gehen, darum suchte und fand er via Internet
Gabriel. Wusste ich's doch, dass wir heute einen Engel mit uns hatten!
Die andere Seite des Passes erscheint viel heller, der Nebel viel lichter und
man kann manchmal fast bis ins Tal hinunter sehen. In einer kleinen
Schutzhütte, kurz nach dem Übergang können wir uns endlich eine
kleine Pause gönnen. Wir hätten nie die Gelegenheit gehabt, den
Rucksack auszuziehen und etwas zu essen oder zu trinken. Es ist inzwischen halb
zwei Uhr geworden, laut Marschtabelle müssten wir ja schon bald in der
Fürenalp sein, aber von hier sind es immer noch gute drei Stunden.
Schnee hat es nun auf dieser Seite etwas weniger, aber trotzdem driften wir noch
einmal etwas vom Weg ab, bis wir etwas weiter unten wieder eine Wegmarkierung
erspähen können. Schon hört man wieder Kuhglockengeläute und
eine Gruppe von Rindern sucht sich mühsam zwischen dem Schnee etwas Futter.
Es ist nun wirklich der Schnee von gestern und heute, welcher all die
schönen Sumpfdotter- und andern Frühlingsblumen noch einmal zugedeckt
hat.
Im Blackenboden begegnet uns ein Ehepaar, welches nach dem Vieh schauen will.
Gestern haben sie hier in der bewirteten Sennhütte ihre Sommersaison
begonnen. Gerne kehren wir bei ihnen in der geheizten Stube zu einem heissen Tee
ein, oder gar einem Kaffee fertig! Neugierig will auch Kevin einen probieren,
aber ihn "strählts fasch hindere".
Hinter uns an der Wand hängt ein Bild mit dem Stier und dem Greiss aus der
Surenensage. Das wäre ja jetzt die beste Gelegenheit, diese Geschichte
vorzulesen und der Senn bestätigt, dass sich das Drama am Schluss hier auf
dieser Alp zugetragen haben solle. Natürlich wird auch für unsere
beiden Begleiter übersetzt, dass einst ein Hirtenknabe von Fremden ein
äusserst begehrenswertes Lämmlein erbettelte und das er so heiss
liebte, dass er fand, es sollte getauft sein. Also stahl er in der Kirche in
Attinghausen Taufwasser. Kaum benetzte das Wasser die Stirn des Lämmleins,
erbrauste ein Sturm in den Lüften und das niedliche Lamm verwandelte sich
in ein furchtbares Ungeheuer, welches die Hütte zerschmetterte und seinen
Meister tötete. Weder Mensch noch Vieh verschonte das Greiss fortan auf
Surenen. Weder Engelbergern noch Urnern wollte die eigentlich schöne Alp
mehr etwas nützen, bis einmal ein fremdes Männlein um zwei Gläser
Wein seine Hilfe anbot. Es riet, ein silberweisses Stierkalb sieben Jahre lang,
jedes Jahr von einer Kuh mehr säugen zu lassen, dann sei es fähig, das
Greiss zu töten. So gut genährt, wurde alsdann ein junges Tier stark
und gross und nach vier Jahren durfte wegen seiner Wildheit niemand mehr bei ihm
sein. Darum schaffte man den Stier auf die Alp Waldnacht. Nach sieben Jahren nun
sollte ihn, nach des Männleins Rat, die edelste und reine Jungfrau von da
dem Greiss entgegenführen. Es ward eine gefunden, die es wagen wollte und
sie rüstete sich vorher im Kloster auf den Tod. Viel Volk geleitete die
weissgekleidete Jungfrau zum Stierengaden, wo sie den Stier an ihre
Haarbänder knüpfen und über die Egge nach Surenen leiten musste.
Erstaunlicherweise fügte er sich ohne Widerstreben. Er würde das
Greiss von weitem wittern, worauf sie ihn losbinden und ohne sich umzuwenden
zurückgehen solle. Bald darauf vernahm man schreckliches Gebrülle und
eine Rauchsäule verfinsterte die Sonne. Als man an den Ort des Geschehens
kam, war von der Jungfrau nichts mehr zu sehen und das Greiss war übel
zugerichtet und tot. Der Stier lag ebenfalls tot im Bach, wohl weil er nach dem
Kampf allzu gierig getrunken hatte. Seither nennt man das Wasser hier den
Stierenbach und deshalb ist es ein Stier, der seither das Urner Wappen ziert.
Der Ort hier auf der Blackenalp erscheint heute wirklich etwas unheimlich. Der
reissende Bach, der sich am Ort des Geschehens durch riesige Felsbrocken
hindurch schlängelt. Eine mächtige Grundlawine, welche die letzte
Woche noch den Weg zugeschüttet hat und den man nun wieder ausfräsen
musste. Eine kleine Kapelle versucht das Bild etwas zu besänftigen.
Im Äbnet teilt sich der Weg und es war mir gar nicht bewusst, dass wir noch
einen rechten Aufstieg vor uns haben. Wir sind wohl aus dem vom Funk
abgeschnittenen Talkessel herausgetreten, denn mindestens drei Handys beginnen
zu läuten. Bis ich meins herausgekramt habe, ist es aber schon zu
spät. Jetzt läutet es bei Hans und er kann nun den beruhigenden
Bericht endlich weitergeben, dass wir bis in einer halben Stunde auf der
Fürenalp eintreffen werden. Da könnte man jetzt fast einen Stein
platschen hören.
Zuerst müssen wir aber noch weitere Prüfungen bestehen. Es wird nicht
nur vor der Weide mit Muttertierhaltung gewarnt, wo man mit Hund besonders
vorsichtig sein muss, sondern der aufgeweichte Wanderweg, der für den
Alpaufzug missbraucht worden ist, muss fast seiltänzerisch bezwungen
werden, will man nicht im lehmigen Morast stecken bleiben.
Endlich zeichnen sich vor uns im Nebel die Umrisse eines Hauses ab. Wir haben es
geschafft. Es ist inzwischen Viertel nach sechs geworden und wir haben für
die vorgegebene Zeit von fünfeinhalb Stunden für diese Tour mehr als
zehn gebraucht.
Der Empfang ist gewaltig. Marie-Louise und Vreni haben den Weg zurück
glücklich überstanden und auf ihrer halben Weltreise über Luzern
und Engelberg hat es für sie gar noch auf den Shuttle und die Seilbahn
gereicht. Ums Haar wäre die Wirtin nach Hause gegangen, da sich die
angemeldete Gruppe abgemeldet habe. So konnte man den Irrtum aufklären und
sie begann dann in der Küche zu wirken. Auch Klaus und Lisbeth sind
eingetroffen und haben inzwischen den nebligen Grotzliweg um die Fürenalp
ausgekundschaftet.
Für unser nasses Zeug werden Wäscheständer herbeigeschafft und
wir können alles hier in der Gaststube zum Trocknen aufhängen.
Drüben im Lager gehe das nicht so gut und wir sollen lieber jetzt zuerst
essen, damit man nicht nochmals hinaus muss.
Ausser Programm hat uns die Köchin noch eine Kohlräblisuppe gemacht
und die Älplermakronen haben mir selten so gut geschmeckt. Alles ist hier
mit viel Fantasie und Liebe zurechtgemacht. Auf den Tischen sind überall
selbst gepflückte Blumensträusschen, sogar auf jedem Tritt auf der
Stiege hinunter zu den Toiletten. Ich meine, Blüemlisalp wäre der
passendere Name als Fürenalp. Auch der Dessertteller ist die absolute
Spitze eines kreativen Meisterkochs. Glacé mit frischen Beeren wunderbar
garniert und auf dem Tellerrand mit Puderzucker der Schriftzug "Fürenalp".
Wir sind total begeistert.
Beim gemütlichen Beisammensein klingt der Abend aus. Lieder werden noch zum Besten gegeben vom Holeduli bis zur Malaysischen Variante von Frère Jacques. Dann geht's hinüber ins Heu. Über ein schmales Holztreppchen gelangt man zuerst auf die Heubühne über dem Kuhstall. Dort schliesst sich ein Raum mit etwa acht Matratzenlager an, sogar mit Duvets! Dieser ist zwar noch nicht isoliert und hier müssen die beiden Jungs schlafen, die auf gut Glück hier nun auch nach Herberge gefragt haben. Unser Raum ist besser isoliert und im Lauf der Nacht wird es dank geschlossenem Fenster fast zur Sauna. Aber im Kuhstall zu schlafen, ist auch für mich ein Novum. Bis sich jedes in seinem Nestchen verkrochen hat, muss der Hund draussen beim Heustock warten, was ihm natürlich keineswegs passt, denn ihn beunruhigen die muhenden Kühe. Jene hingegen reagieren verärgert auf sein Bellen und erst, als er es sich am Schluss auf einer ausgebreiteten Zeitung im Gang zwischen den beiden Matratzenreihen gemütlich machen darf, gibt es Ruhe im Stall. Lange muss man mich heute nicht in den Schlaf wiegen und die Kuhglocken von unten begleiten mich durch meine Träume.
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