zum vorherigen Tag | 4. August 2012 | Home |
Auch heute erstrahlt wieder ein blanker Himmel und Sonnenschein und der hier obligate, ewige Wind begleitet uns auf meinem persönlichen, letzten Abschnitt über den Sanetschpass bis zur Seilbahn. Diese zwei Stunden Wanderung habe ich mir zusammen mit Lisbeth als Dessert unserer diesjährigen Sommerwanderung aufgehoben. Es sind noch etwa sechs Kilometer und knapp zweihundert Meter Auf- und Abstieg. Wir kommen auf dem Wanderweg etwas unterhalb der Strasse über die Passhöhe und da bin ich nun gerade etwas enttäuscht. Immer noch habe ich nämlich das Bild vor Augen, als ich mit dem Postauto vor ein paar Jahren hier bei einem Halt auf der Passhöhe zum ersten Mal die gewaltigen Ausmasse dieser Karstlandschaft sah, was wirklich wie ein Gletscher ausgesehen hat. Leider führt der Wanderweg in einer kleinen Senke an diesem spektakulären Aussichtspunkt vorbei und man kann nur ganz kurz bis zum Tsanfleuron-Gletscher sehen. Der steinerne Gletscher, dessen Name ich irgendwo als Lapis de Tsanfleuron gefunden habe, ist vom Wanderweg aus nicht überblickbar. Dafür entdecken wir die Quelle der Saane. Es sprudelt nicht und quillt nicht, so wie ich mir eine Quelle immer vorgestellt habe. Hier ist einfach ein etwa vier Quadratmeter grosser sumpfiger Fleck, welchen ein Rinnsal von einem Wässerchen verlässt. Schon zehn Meter weiter jedoch hat sich unsichtbar in seinem Bachbett Wasser dazu gesellt und man kann dem nun getrost Bach sagen. Weitere zweihundert Meter weiter tost bereits ein richtiger Wasserfall durch eine Schlucht. Eigentlich leuchtet das ein: Die riesigen Ausmasse des Karstfelsens lassen das Wasser versickern und irgendwo muss es ja zusammen mit dem Gletscherwasser des Tsanfleuron wieder zum Vorschein kommen. Dass aber aus demselben Gletscher dort oben nicht nur Wasser mit der Saane später in den Rhein und die Nordsee fliesst, sondern ebenso das Wasser, dessen Bachbett wir gestern zur Alphütte Tsanfleuron gefolgt sind, mit der Morge hinunter zur Rhone und dann ins Mittelmeer fliesst, erfahren wir auf einer Tafel hier bei der Saanequelle.
Übrigens heisst Tsanfleuron soviel wie Blüemlisalp, weil hier einst eine
wunderbare Alp gewesen sei. Der Senn, dem sie gehörte war reich und hätte
den Weg von seinem Haus bis zum höchsten Staffel breit mit Käse
auspflastern können, aber er gönnte den Seinen und den Knechten und
Mägden nur die schlechteste Nahrung. Einst wankte ein altes, krankes
Mütterchen daher und flehte um ein Stück Brot und um einen Trunk Milch,
weil es vor Hunger und Durst verschmachtete; aber der reiche Bauer schmetterte die
Haustür, gegen das Bettelgesindel scheltend und polternd, hinter sich zu.
Langsam, auf einen Stab gestützt, erklomm die Bettlerin darauf den steilen
Berg. Kurze Zeit hernach ereignete es sich, dass fürchterliche Stürme,
von Donner und Blitz und Erdbeben begleitet, den nahen Untergang der Welt
anzukünden schienen. Zitternd verkroch sich jedermann in seiner Stube, nur der
reiche Bauer sah stolz und höhnisch dem Brausen der Elemente zu. Aber siehe,
mit donnerähnlichem Knall und Toben löste sich vom höchsten Gipfel
des Sanetsch eine ungeheure Masse von Fels und Eis, alles verwüstend,
mitreißend und verheerend, mit Blitzesschnelle in die Tiefe. Und verschwunden
waren die grasreichen Triften, die üppigen Wiesen; keine Spur von dem Haus des
reichen Bauern war mehr vorhanden und die schönen Blumenwiesen von einst
wurden zur kalten Eiswüste von heute. Dieser Gletscher wurde ein Zufluchtsort
für böse Geister und Dämonen, Treffpunkt der verdammten und
teuflischen Seelen. Diese vergnügten sich beim Kegeln und rollten grosse
Felsbrocken herum, die manchmal donnernd in die Täler des Ormond-Dessus im
Waadtland und der Derborence im Wallis stürzten. So erhielt auch der steil und
spitz in den Himmel ragende Felsbrocken südlich des Tsanfleurongletschers
seinen Namen: Quille du Diable (Teufelskegel) und das ganze Massiv les Diablerets (aus Les Diablerets Legenden).
Ohne weitere Teufeleien sind wir gegen halb zwölf bei der Staumauer und der
Seilbahn angelangt. Ein Blick in die ‚Körbchenkapelle' beschert mir
zwar keinen Christophorus, aber anstatt ein ‚Erntedank-Körbchen'
darzubringen, wie es hier der Brauch ist, zünden wir in Dankbarkeit für
die wunderbare Sommerwanderung in diesem Jahr, ein Lichtlein an.
Zusammen mit drei Velofahrern (welche auf befahrbaren Strassen radeln und keine Zehenschuhe an den Füssen tragen) schweben wir bald die 800 Meter hinunter nach Gsteig, wo wir uns im Restaurant Sanetsch ein Salätchen zu Gemüte führen, bis uns das Postauto nach Gstaad bringt. Die Idee für einen Besuch des Lauenensees lassen wir in Anbetracht der in diesem Gebiet dräuenden Gewitterwolken fallen und steigen in Gstaad statt ins Postauto, in den Zug nach Zwiesimmen um.
Dort stosse ich beinahe mit Vreni Schnebli zusammen, die ebenfalls von Gstaad her kommend, nach Lenk unterwegs ist. Freudig überrascht entschliessen wir gerade, den nächsten Zug abfahren zu lassen und stattdessen den Bauernmarkt, der hier in Zweisimmen in Gang ist, unsicher zu machen. Da wird gezeigt, wie man eine Sense richtig ‚dengelt', allerlei Erzeuignisse von Bauern und Sennen werden angeboten und Lisbeth lässt sich von einem Drechsler einen schönen Holzpilz aus einem dicken Stück Haselstecken zaubern. Sie darf dafür die Spindel mit dem Holzpedal in Bewegung bringen. Bei einem von Vreni offerierten Käffeli können wir ihr gerade brühwarm das Neueste von unserer diesjährigen Sommerwanderung erzählen.
Mit einer feinen Rinds-Dauerwurst und einem geräucherten Geissenkäse im Rucksack, setzen wir unsere Heimreise im übernächsten Zug wieder fort. René holt uns in Basel ab und weil man Lisbeth nicht einfach so vor ihrer Haustür abstellen kann, ist Joe schnell mit einem Apéro bei der Hand und zusammen wird daselbst ein letztes Mal auf unsere schöne Ferienwoche angestossen.
zum vorherigen Tag | 4. August 2012 | Home |