zum vorherigen Tag 3. August 2012 zum nächsten Tag

Es haben sich doch noch drei Weitere entschlossen, uns hier in Derborence zu verlassen. Bestimmt wollen sie die spektakuläre Fahrt über Conthey nach Sion ein zweites Mal auskosten und warten hier auf den Postautokurs um fünf vor Zwölf. Wir winken also nach dem Frühstück Annigna, Herbert und Klaus Adé und machen uns zu sechst zuversichtlich auf unseren Fünfstünder. Mit mir hat man sicher sechs oder sieben Stunden, denn das Profil zeigt für heute abermals einen Gesamtaufstieg von 1200 Metern. Ein Stück davon scheint mir beinahe überhängend zu sein.
Zuerst geht es aber moderat in leichtem Auf und Ab durch den lichten, von der Morgensonne durchfluteten Lärchenwald, der auf dem Bergsturzdamm gewachsen ist. Orchideen begleiten uns am Weg und es duftet nach nassem Holz, denn in der Nacht hat es heute abermals geregnet und noch umspinnen die Morgennebel die Gipfel und Spitzen von Diablerets und Muverans. Der Weg führt uns in weitem Bogen rund um den Talkessel und bald sehen wir schon weit unter uns den Stausee mit seinem Erddamm, der von der Lizerne und andern Bächlein, welche sich in Wasserfällen von den hohen Felswänden der Diablerets stürzen, gespeist wird.
Ein erstes Etappenziel ist ganz hinten im Tal, wo noch lange keine Sonne hinkommt und deshalb auch noch grosse Reste von Lawinen liegen geblieben sind, durch welche sich aber die Lizerne einen richtigen Tunnel gefressen hat. Hier beginnt nun unser Aufstieg. Weit oben in der Höhe eine Klamm durch die Felswand.
Meine Dampfwalze nimmt ihren Betrieb auf und Schritt für Schritt versuche ich mir Annignas gleichmässigen, alles überwindenen Tritt in Erinnerung zu rufen. Meter um Meter hieve ich mich an meinen Stöcken immer weiter hinauf und zum ersten Mal auf dieser Wanderung habe ich bald Angst, dass meine Beine das nicht mehr schaffen. Aber dann sind wir doch unterhalb der Felsspalte angelangt, wo man auf mich gewartet hat, die Gelegenheit für ein Ovosport vor dem Kletterabenteuer, damit ich doch noch etwas länger kann.
Ein Ehepaar hat die Klamm gerade durchstiegen und sie warnen uns vor einem Seil, welches nicht mehr richtig verankert ist. Es sind in diesem Einschnitt Eisen und Seile angebracht und am Schluss sogar noch eine Leiter.

nochmals ein sonniger Tag adé durch diese Spalte müssen wir schwindelerregend und schon sind wir oben

Solches macht mir aber eigentlich kein Bauchweh, so überwindet man viel leichter viel mehr Höhe als vorhin über den steilen Pfad vom Tal hier herauf. Trotzdem fordert es Konzentration und Puste, dafür geniesst man dann oben umso mehr einen erquickenden Schluck aus der Wasserflasche, ganz zu schweigen von der erweiterten Aussicht, hinunter ins Tal, aus welchem man gekommen ist und zum gegenüberliegenden Berg mit seinen vielen, mit leuchtend grünen Grasdächern bewachsen Felsbändern, welche einen etwas an die Innerschweizer Häuser mit ihren Vordächern über den Fenstern auf jedem Stock in der Giebelwand erinnern.
Man kommt aus dem Staunen kaum heraus, denn nun müssen wir tatsächlich die Augen reiben, aber das Bild ist immer noch da - aus der Klamm und über die Leiter herauf kommt wahrhaftig einer mit seinem Bike auf der Schulter heraufgestiegen. Und Schuhe hat der an - die Grossmutter staunt weiter - Schuhe mit zehn Zehen, so wie es Fingerhandschuhe gibt! Aber eigentlich schleppen wir ja alle auch unser Gepäck auf dem Buckel, nur ist dieses etwas weniger sperrig. Ich frage den jungen Mann, wie schwer sein Velo sei. 9 Kilo und er hält es mir zum Probieren hin. Na ja, mein Rucksack ist auch so schwer. Also lassen wir ihm seinen Spass, ich habe den meinen.

die Muverans, die wir umrundet haben grün überdachte Felsbänder was kommt denn da aus der Klamm? die Wasserflaschen sind leer geworden Siesta

Inzwischen ist fast zwölf Uhr geworden und wir geniessen eine erholsame Rast mit Blick von hoch oben auf die vielen Têtes, die wir in den letzten fünf Tagen umrundet haben: Tête Pegnat, Tête à Grosjean, Tête de Bellalue, Tête à Pierre Grept, um nur einige zu nennen und auch noch Tita Naire und Grand Muveran ohne Anspruch darauf, sie auch identifizieren zu können.
Was wir aber von hier aus ausserdem noch überblicken können, ist der Bergsturz-Schuttkegel unten in der Derborence mit der Strasse, auf welcher das pünktlich abgefahrene Postauto auszumachen ist. Bye-bye ihr Drei - wir haben das Schlimmste auch bereits hinter uns!
Auf der Alp Mié füllen wir im klaren Bach zuerst unsere leeren Wasserflaschen auf und anschliessend suchen wir uns ein hübsches Plätzlein auf einem Hügelchen, wo gerade alle sechs Platz finden und halten, umgeben von noch blühenden Alpenrosen, Pipau und Glockenblumen, unsere Mittagsrast.
Es geht immer noch aufwärts, zwar nicht mehr so schlimm und dann ist dort oben der allerletzte Col unserer Wanderung und ich glaube, er hat nicht einmal einen Namen, aber ich bin glücklich und ein letztes Mal gratulieren wir uns gegenseitig zu unserer Leistung.

bei Sex Rouge Lapis de Tsanfleuron - wie ein Gletscher vor den grossen Karstfeldern schauen, wohin man tritt wie auf einer Gletscherzunge

Die Gegend hier ist faszinierend. Auf der rechten Seite eine mit Gras bewachsene Mulde, in welcher Wässerchen mäandern. Wo aber fliessen sie hin? Es scheint eine grosse Doline zu sein, denn wir befinden uns mitten im Karstgebiet. Auf der linken Seite sieht man bis zum flachen Gletscher der Diablerets und von dort zieht sich das weisse, karstige und durchlöcherte Felsgestein wie eine mächtige Gletscherzunge weit hinüber bis zum Sanetschpass. Noch ein allerletztes Hügelchen und wir stehen direkt vor diesem immensen Felsenfluss, den wir nun überqueren müssen. Wohl hat der Gletscher diese mächtige Kalkfelsplatte so glatt geschliffen, aber die Kohlensäureverwitterung hat genagt und gebohrt und ausgewaschen, hat Kanäle und Löcher geformt und man muss heftig aufpassen, wohin man tritt. Wie über einen richtigen Gletscher führen uns Wegmarken und rot/weisse Pfosten, bis wir am Rand der wohl gut zehn Meter dicken Fels-Zunge auf einer schmalen Erd-Insel weiter vorn gegen die Sanetschpassstrasse die Alphütte Tsanfleuron erreichen. An der Haltestelle steht ein Postauto. Kann es sein, dass es doch noch einen früheren Kurs gibt, als jenen um 17:38, den ich herausgeschrieben habe? Es ist jetzt erst 15:38 und es stellt sich heraus, dass das Postauto hier einfach wartet. Also gehen wir doch wie vorgesehen hinunter zum Hôtel du Sanetsch, wo wir nun mit einem kühlen Drink auf unsere erfolgreiche Sommerwanderung 2012 anstossen können. Was haben wir für Wetterglück gehabt - die ganze Woche keinen Tropfen Regen! Am Sonntag nach dem Frühstück, gerade bevor wir losgewandert sind, hat es aufgehört zu regnen und diese beiden Male, die es in der Nacht genetzt hat, haben uns nicht gestört.

wir haben doch noch Zeit... ...im Hôtel du Sanetsch... ...zu einem kühlen Drink im Dortoir wir kommen noch nicht mit heim

Ich habe mir vorgenommen, heute noch nicht heimzugehen und habe mir schon letzte Woche hier im Hotel Sanetsch ein Bett im Dortoir reserviert, damit ich dann morgen gemütlich über den Sanetschpass und mit der Seilbahn nach Gsteig und über Gstaad wieder nach Hause fahren kann. Weil das Wetter für morgen auch noch schön bleiben soll, kann sich Lisbeth gerade auch noch für diesen Plan erwärmen.
Das Hotel ist neu renoviert und unter dem Dach wurde ein hübsches Dortoir mit 12 richtigen Betten eingerichtet. Da schlägt ja das Herz gerade höher und duschen kann man - welche Wonne! Also frisch gewaschen, putzt und gstrählt begleiten wir nun die verbleibenden Vier auf ihr Postauto, mit welchem sie ihre Heimreise über Savièse, Sion und Visp nach Basel antreten.
Wir zwei geniessen anschliessend einen Polentagratin (der Koch hat allerdings Griess erwischt) und dazu ein gutes Glas Wein und ich fühle mich heute in einem richtigen Bett fast wie im Himmel.


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