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Es haben sich doch noch drei Weitere entschlossen, uns hier in Derborence zu
verlassen. Bestimmt wollen sie die spektakuläre Fahrt über Conthey nach
Sion ein zweites Mal auskosten und warten hier auf den Postautokurs um fünf
vor Zwölf. Wir winken also nach dem Frühstück Annigna, Herbert und
Klaus Adé und machen uns zu sechst zuversichtlich auf unseren
Fünfstünder. Mit mir hat man sicher sechs oder sieben Stunden, denn das
Profil zeigt für heute abermals einen Gesamtaufstieg von 1200 Metern. Ein
Stück davon scheint mir beinahe überhängend zu sein.
Zuerst geht es aber moderat in leichtem Auf und Ab durch den lichten, von der
Morgensonne durchfluteten Lärchenwald, der auf dem Bergsturzdamm gewachsen
ist. Orchideen begleiten uns am Weg und es duftet nach nassem Holz, denn in der
Nacht hat es heute abermals geregnet und noch umspinnen die Morgennebel die Gipfel
und Spitzen von Diablerets und Muverans. Der Weg führt uns in weitem Bogen
rund um den Talkessel und bald sehen wir schon weit unter uns den Stausee mit
seinem Erddamm, der von der Lizerne und andern Bächlein, welche sich in
Wasserfällen von den hohen Felswänden der Diablerets stürzen,
gespeist wird.
Ein erstes Etappenziel ist ganz hinten im Tal, wo noch lange keine Sonne hinkommt
und deshalb auch noch grosse Reste von Lawinen liegen geblieben sind, durch welche
sich aber die Lizerne einen richtigen Tunnel gefressen hat. Hier beginnt nun unser
Aufstieg. Weit oben in der Höhe eine Klamm durch die Felswand.
Meine Dampfwalze nimmt ihren Betrieb auf und Schritt für Schritt versuche ich
mir Annignas gleichmässigen, alles überwindenen Tritt in Erinnerung zu
rufen. Meter um Meter hieve ich mich an meinen Stöcken immer weiter hinauf und
zum ersten Mal auf dieser Wanderung habe ich bald Angst, dass meine Beine das nicht
mehr schaffen. Aber dann sind wir doch unterhalb der Felsspalte angelangt, wo man
auf mich gewartet hat, die Gelegenheit für ein Ovosport vor dem
Kletterabenteuer, damit ich doch noch etwas länger kann.
Ein Ehepaar hat die Klamm gerade durchstiegen und sie warnen uns vor einem Seil,
welches nicht mehr richtig verankert ist. Es sind in diesem Einschnitt Eisen und
Seile angebracht und am Schluss sogar noch eine Leiter.
Solches macht mir aber eigentlich kein Bauchweh, so überwindet man viel
leichter viel mehr Höhe als vorhin über den steilen Pfad vom Tal hier
herauf. Trotzdem fordert es Konzentration und Puste, dafür geniesst man dann
oben umso mehr einen erquickenden Schluck aus der Wasserflasche, ganz zu schweigen
von der erweiterten Aussicht, hinunter ins Tal, aus welchem man gekommen ist und
zum gegenüberliegenden Berg mit seinen vielen, mit leuchtend grünen
Grasdächern bewachsen Felsbändern, welche einen etwas an die
Innerschweizer Häuser mit ihren Vordächern über den Fenstern auf
jedem Stock in der Giebelwand erinnern.
Man kommt aus dem Staunen kaum heraus, denn nun müssen wir tatsächlich
die Augen reiben, aber das Bild ist immer noch da - aus der Klamm und über die
Leiter herauf kommt wahrhaftig einer mit seinem Bike auf der Schulter
heraufgestiegen. Und Schuhe hat der an - die Grossmutter staunt weiter - Schuhe mit
zehn Zehen, so wie es Fingerhandschuhe gibt! Aber eigentlich schleppen wir ja alle
auch unser Gepäck auf dem Buckel, nur ist dieses etwas weniger sperrig. Ich
frage den jungen Mann, wie schwer sein Velo sei. 9 Kilo und er hält es mir zum
Probieren hin. Na ja, mein Rucksack ist auch so schwer. Also lassen wir ihm seinen
Spass, ich habe den meinen.
Inzwischen ist fast zwölf Uhr geworden und wir geniessen eine erholsame Rast
mit Blick von hoch oben auf die vielen Têtes, die wir in den letzten
fünf Tagen umrundet haben: Tête Pegnat, Tête à Grosjean,
Tête de Bellalue, Tête à Pierre Grept, um nur einige zu nennen
und auch noch Tita Naire und Grand Muveran ohne Anspruch darauf, sie auch
identifizieren zu können.
Was wir aber von hier aus ausserdem noch überblicken können, ist der
Bergsturz-Schuttkegel unten in der Derborence mit der Strasse, auf welcher das
pünktlich abgefahrene Postauto auszumachen ist. Bye-bye ihr Drei - wir haben
das Schlimmste auch bereits hinter uns!
Auf der Alp Mié füllen wir im klaren Bach zuerst unsere leeren
Wasserflaschen auf und anschliessend suchen wir uns ein hübsches
Plätzlein auf einem Hügelchen, wo gerade alle sechs Platz finden und
halten, umgeben von noch blühenden Alpenrosen, Pipau und Glockenblumen,
unsere Mittagsrast.
Es geht immer noch aufwärts, zwar nicht mehr so schlimm und dann ist dort oben
der allerletzte Col unserer Wanderung und ich glaube, er hat nicht einmal einen
Namen, aber ich bin glücklich und ein letztes Mal gratulieren wir uns
gegenseitig zu unserer Leistung.
Die Gegend hier ist faszinierend. Auf der rechten Seite eine mit Gras bewachsene Mulde, in welcher Wässerchen mäandern. Wo aber fliessen sie hin? Es scheint eine grosse Doline zu sein, denn wir befinden uns mitten im Karstgebiet. Auf der linken Seite sieht man bis zum flachen Gletscher der Diablerets und von dort zieht sich das weisse, karstige und durchlöcherte Felsgestein wie eine mächtige Gletscherzunge weit hinüber bis zum Sanetschpass. Noch ein allerletztes Hügelchen und wir stehen direkt vor diesem immensen Felsenfluss, den wir nun überqueren müssen. Wohl hat der Gletscher diese mächtige Kalkfelsplatte so glatt geschliffen, aber die Kohlensäureverwitterung hat genagt und gebohrt und ausgewaschen, hat Kanäle und Löcher geformt und man muss heftig aufpassen, wohin man tritt. Wie über einen richtigen Gletscher führen uns Wegmarken und rot/weisse Pfosten, bis wir am Rand der wohl gut zehn Meter dicken Fels-Zunge auf einer schmalen Erd-Insel weiter vorn gegen die Sanetschpassstrasse die Alphütte Tsanfleuron erreichen. An der Haltestelle steht ein Postauto. Kann es sein, dass es doch noch einen früheren Kurs gibt, als jenen um 17:38, den ich herausgeschrieben habe? Es ist jetzt erst 15:38 und es stellt sich heraus, dass das Postauto hier einfach wartet. Also gehen wir doch wie vorgesehen hinunter zum Hôtel du Sanetsch, wo wir nun mit einem kühlen Drink auf unsere erfolgreiche Sommerwanderung 2012 anstossen können. Was haben wir für Wetterglück gehabt - die ganze Woche keinen Tropfen Regen! Am Sonntag nach dem Frühstück, gerade bevor wir losgewandert sind, hat es aufgehört zu regnen und diese beiden Male, die es in der Nacht genetzt hat, haben uns nicht gestört.
Ich habe mir vorgenommen, heute noch nicht heimzugehen und habe mir schon letzte
Woche hier im Hotel Sanetsch ein Bett im Dortoir reserviert, damit ich dann morgen
gemütlich über den Sanetschpass und mit der Seilbahn nach Gsteig und
über Gstaad wieder nach Hause fahren kann. Weil das Wetter für morgen
auch noch schön bleiben soll, kann sich Lisbeth gerade auch noch für
diesen Plan erwärmen.
Das Hotel ist neu renoviert und unter dem Dach wurde ein hübsches Dortoir mit
12 richtigen Betten eingerichtet. Da schlägt ja das Herz gerade höher und
duschen kann man - welche Wonne! Also frisch gewaschen, putzt und gstrählt
begleiten wir nun die verbleibenden Vier auf ihr Postauto, mit welchem sie ihre
Heimreise über Savièse, Sion und Visp nach Basel antreten.
Wir zwei geniessen anschliessend einen Polentagratin (der Koch hat allerdings
Griess erwischt) und dazu ein gutes Glas Wein und ich fühle mich heute in
einem richtigen Bett fast wie im Himmel.
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