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Eigentlich habe ich letztes Jahr verlauten lassen, dass es mir nun genug
Hüttenromantik gewesen sei und ich mich nicht mehr freiwillig solchen
Strapazen aussetzen will. Hans und Knud aber konnten es kaum verwinden, dass es
dieses Jahr nun keine Sommerwanderung geben sollte. Vielleicht eine kleinere,
nicht so anstrengende Tour für etwa drei Tage. Hans hätte da noch so
einen Vorschlag im Hinterkopf und zwar einen Teil der Wildhorntour. Anstatt der
relativ steilen Anmarschroute von der Iffigenalp zur Wildhornhütte,
wählen wir für den ersten Tag den sich auf der Karte einer
Höhenlinie entlangschlängelnden Wanderweg vom Betelberg oberhalb Lenk
bis zum Dungelpass. Erst dort, nach etwa sechs Kilometern gibt es einen Aufstieg
über 300 Meter, von wo man anschliessend dann zur Wildhornhütte
absteigen kann. Mein Programm von Swiss Map, mit welchem man spielend ein Profil
mit Höhenangaben und Marschzeiten ausdrucken kann, berechnet mir für
diesen ersten Tag eine moderate Wanderzeit von 3 1/4 Stunden. Der zweite Tag von
der Wildhornhütte übers Schnidejoch und den Col des eaux froides zur
Cabane des Audannes sollte für die 6 1/2 km dreieinhalb Stunden dauern und
der dritte Tag wäre die längste Strecke, weil man nach 3 Std. 40 beim
Sanetschpass dann noch eine Stunde bis zum Stausee laufen muss, weil vom Pass
erst um halb sechs Uhr ein Postauto Richtung Wallis fährt. Natürlich
sind diese Zeitangaben, welche jeweils auch auf den Wegweisern stehen, für
jünger Beine als die unseren berechnet und wir müssen schon 50 %
Zuschlag geben, aber trotzdem lassen uns diese Zeitangaben auf eine auch
für uns machbare Tour schliessen.
So kann ich Hans, der sich in der Lenk bereits ein bisschen akklimatisiert hat,
vom Zug aus die definitive Teilnehmerzahl mitteilen, damit er an der Gondelbahn
auf den Betelberg bereits alle Billette lösen kann. Herbert und Katrin
konnten Hans-Martin dazu animieren, mitzukommen. Auch Lotty machte Heidi, einer
Seminar-Kameradin eine gemütliche, dreitägige Wanderung in den Bergen
schmackhaft. Mit dabei sind auch diesmal wieder Prisca und Hedy. Hanspeter will
es nun auch nochmals wissen und hat sich seinen grossen Rucksack angeschnallt.
Da diesmal Lykke-Lise ebenfalls mit dabei ist, habe ich mich umstimmen lassen,
um nun aber sicher ein letztes Mal Hüttenromantik pur zu geniessen.
Vielleicht kann sie mich, oder wir uns beide gegenseitig etwas moralisch dabei
unterstützen.
Am Wetter ist heute überhaupt nichts auszusetzen. Es soll heiss werden und
deshalb ist eine Flucht in die Höhe das einzig Richtige. Das machen viele
andere auch und der Zug von Bern Richtung Zweisimmen ist pumpenvoll.
Glücklich im richtigen Teil des dreiteiligen Zuges einen Platz ergattert zu
haben, können wir nun die zwei neuen Gesichter, beide aus dem
Züribiet, in unserem Kreis begrüssen.
An der Talstation der Gondelbahn zum Betelberg erwartet uns Hans mit den
Billetten, welche uns nun zu Beginn unserer Wanderung die Bewältigung der
ersten 800 Höhenmeter mit einem Fingerschnippen erlauben. Sanft werden wir
in ein von Sonne überflutetes, mit Alpenrosen und Blumenteppichen
überzogenes Bergparadies entrückt. Angenehm und leicht erscheint einem
der weit voraus überschaubare Weg, welcher uns laut Wegweiser in zwei
Stunden am Dungelpass zu sein verspricht. Es ist fast halb zwölf bei
unserem Abmarsch und eine halbe Stunde später setzen wir uns in der
Nähe eines kleinen Tümpels zwischen den kugeligen Bartbüscheln
der verblühten Anemonen, inmitten einer Blumenwiese zu einer kurzen
Mittagsrast.
Der kaum merkliche Aufstieg zum Stübleni verändert aber bereits die
uns begleitende Blumenpracht. Ein ganzes Nest mit Paradieslilien noch im hohen
Gras, wird abgelöst mit den niedrigeren Alpenkräutern, Bergveilchen,
Trollblumen und gar noch blühender Frühlingsenzian. Soldanellen
läuten neben letzten Schneeresten den Frühling ein, während um
die nächste Wegbiegung bereits der Knöterich und Sauerampfer schon
fast wieder an Herbst erinnern.
Bald ist bereits der Dungelpass erreicht. Bis hierher haben wir die Vorgaben des
Wegweisers sogar unterboten und angesichts des jetzt vor uns liegenden Aufstiegs
sollen sich die Geister noch an einer kühlen Tranksame laben. Wir hoffen,
dass wir genügend fest im Sattel sitzen, denn gleich zu Beginn müssen
wir eine kurze, kritische Stelle durch ein Felsband passieren.
‚Hängstesprung' heisst es hier und man hat zur Sicherung eine Kette
montiert, mit welcher man den Hengst etwas zügeln kann.
Nun beginnt sich der Bergweg in die Höhe zu schrauben, während sich
unter uns die Alp Chüetungel langsam ausbreitet und die Blicke sich immer
weiter hinunter Richtung Lauenensee tasten können. Synchron mit dem
Aufstieg beginnt sich auch meine Dampfwalze in Szene zu setzen. Das kenne ich
nun ja, aber plötzlich realisiere ich, dass sie Konkurrenz bekommen hat.
Hans-Martin ist hinter mir und die Seine geht noch schneller als meine. Ich bin
gerade daran, meine wieder in den Griff zu bekommen, denn wie hat Annigna
gesagt: der Schritt und der Atem müssen zusammen in Einklang kommen. Also
herunter mit dem Tempo und langsam, einen Schritt vor den anderen und
möglichst gleichmässige Höhenunterschiede suchen für den
nächsten Schritt. Ich probiere also meinen Schritt der Lokomotive von
Hans-Martin anzugleichen und ich habe das Gefühl, es bringt ihm etwas und
oh Wunder, meine Dampfwalze selber beruhigt sich massiv. Trotzdem muss er nun
stehen bleiben, um zu verpusten. Ich glaube, ich habe noch etwas Coramin im
Rucksack. Hans hat das nun gesehen und als wir aufgeschlossen sind, gebietet er
für Hans-Martin eine Pause. Hans achtet nun auch darauf, dass er jetzt
hinter ihm geht, denn die Wirkung von Coramin könne heimtückisch sein
und man so manchmal die eigenen Grenzen nicht mehr spüren könne. Ganz
gemächlich geht's nun weiter und nach anderthalb Stunden lässt Hans
wie nebenbei fallen, dass wir den höchsten Punkt für heute erreicht
hätten. Das Stichwort für unsere Tradition eines Gipfelkusses, den ich
mir möglichst nicht entgehen lassen will. Es ist jeweils wie eine kleine
Anerkennung, die Strapazen ausgehalten zu haben und auch ein bisschen seinen
Stolz mit andern teilen zu können, den eigenen inneren Schweinehund
überwunden zu haben.
Nun öffnet sich auch ein neues Panorama Richtung Wildstrubel. Aus einer
Mulde tief unter uns leuchtet blau der Iffigensee, den man wohl von der
Wildhornhütte aus sieht, welche selber aber noch von dem breiten Buckel des
dazwischen liegenden Niesenhorn verdeckt wird. Aber immerhin geht es von hier
aus nur noch runter und in einer Stunde sollten wir dies auch geschafft haben.
Vorgaben für ein Gruppenbild mit Bschiss werden angelegt und dann werden
die Knie gefordert.
Das Gestein ist hier stellenweise ganz feinschiefrig und wir müssen auch
die ersten Schneefelder überqueren. Bald werden auch die ersten Edelweiss
gesichtet. Liebend gern hätte ich voller Stolz daheim ein solches Bild
präsentiert, aber dazu hätte ich meine Kamera von Alpenpanorama auf
Makro umschalten müssen. Prisca hat das mit ihrem Handy problemlos
eingefangen ihr Produkt will ich ihr dann für meinen Bericht abbetteln.
Nach der nächsten Wegbiegung kommt nun die Wildhornhütte in Sicht -
drüben am Fuss der kiesigen Flanke des Schnidehore, aber unser Weg dorthin
führt zuerst tief hinunter zum Bach und dann auf der andern Seite des noch
mit Schnee zugeschütteten Bachbetts wieder hinauf! Es ist wieder wie
verhext - ist einmal die Hütte in Sicht, hat man das Gefühl, als ob
man diesen Rest nicht mehr schaffen könnte. Was muss ich meinen Beinen
wieder alles versprechen, dass sie mich noch diesen letzten, kleinen Hügel
hinauf tragen! Nachdem ich sie aus den schweren Schuhen befreit habe, lasse ich
sie auf einer Bank vor der Hütte in der Abendsonne von der feinen Bergluft
umschmeicheln und meine Kehle bekommt eine Ovomaltine und ich hoffe, dass sich
so meine Batterie wieder etwas aufladen kann. Ich fühle mich richtig
erschöpft, etwas, das ich kaum kenne.
Vor dem Nachtessen um halb sieben will ich noch mein Nestchen vorbereiten. Wir
haben wenigstens einen eigenen Raum für unsere Gruppe und ich habe mir die
äusserste Matratze im oberen Regal gesichert. So muss ich nur auf eine
Seite aufpassen, dass ich niemanden derangiere. Ich mache mein Bett
schlupfbereit und lege die Taschenlampe in Griffnähe. Immerhin gibt es hier
ein gemeinsames Licht, das aus Solarenegrie generiert wird. Eine Steckdose,
womit ich meinen Fotoakku aufladen könnte, entdecke ich erst später im
Männerwaschraum. Brauchen darf man davon von 16 Uhr bis 10 Uhr oder einfach
solange es hat! Bei unserem schönen Wetter ist dies aber heute kein
Problem.
Ich bin nicht die Einzige, die heute keine Bäume mehr ausreissen
möchte. Auch Lykke-Lise hat sich bald nach unsere Ankunft eine freie
Matratze gesichert und macht, für sie ebenfalls ungewöhnlich, noch vor
dem Nachtessen ein Nickerchen. Sie sind erst Anfangs Woche von der Isleik in
Rekyavik heimgekommen und Lykke-Lise meint, sie selber sei wohl noch gar nicht
richtig gelandet.
Hans Martin ist gerade dabei, die Seinen daheim darauf vorzubereiten, dass er
abbrechen und morgen über die Iffigenalp den Heimweg unter die Füsse
nehmen wird. Mit einem mehr als doppelt so hohen Aufstieg wie heute käme er
mit seinen Kräften wohl ans Limit. Auch Hanspeter überlegt laut, ob er
nicht besser Hans Martin begleiten soll, denn die hohen Kletterfelsen, die wir
heute teilweise bewältigt haben, wurden von seiner Hüfte nicht sehr
goutiert. Ausserdem rebellieren seine Augen jetzt schon und morgen werden wir
wohl noch viel mehr Schnee antreffen. Ich selber ertappe mich dabei, dass ich
damit liebäugle, mich den beiden anzuschliessen, denn mir macht der
Wetterbericht Bauchweh. Morgen kann es noch gut sein und wenn wir Glück
haben, warten die vorhergesagten Gewitter bis wir in der Cabane des Audanne
sind, aber für Freitag sind zum Teil heftige Gewitter angesagt und unser
Weg führt über einen langen, schmalen Grat, wo man keine Deckung
hätte vor den Gewalten der Natur. Hans nimmt meine Bedenken ernst und beim
Nachtessen werden mögliche Alternativen besprochen. Hedi weiss, dass man
vom Lac de Ténéhe aus auch auf die Walliser Seite hinunter
absteigen und mit einem Postauto weiterkommen könnte.
Wir beschliessen also, morgen mal das noch gute Wetter auszunutzen und uns
beizeiten auf den Weg zu machen und das weitere dann dort zu entscheiden.
Vorerst wenden wir uns der willkommenen Suppe zu und auch die Spaghetti tragen
sicher dazu bei, dass unser Akkus wieder aufgeladen und regeneriert werden
können.
Obwohl mich dieser Lösungsvorschlag gewaltig beruhigt hat, flieht mich der
Schlaf fast die ganze Nacht, wie schon so oft in Höhen über 2000
Metern, was eben auch zu meinen Erfahrungen im Zusammenhang mit
Hüttenromantik zählt.
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