zum vorherigen Tag 21. Juli 2016 zum nächsten Tag

Der Himmel ist heute nicht mehr ganz so strahlend, denn im Osten schmieren die angekündigten Gewitter ihr erstes Gewölk über das Blau, aber die Temperatur ist zum Wandern ideal. Hanspeter hat sich nun entschlossen, Hans-Martin hinunter über die Iffigenalp heim zu begleiten. Zuerst noch ein Gruppenfoto vor der Hütte mit allen zwölf. Zehn davon nehmen den Aufstieg von vorerst 460 Meter aufs Schnidejoch in Angriff. Der junge Mann, der mir gestern seine Tour für heute verriet - den gleichen Weg übers Schnidejoch und die Cabane des Audanne und noch über den Grat bis Sanetsch - sehen wir bereits hoch oben im Schneefeld, kurz bevor er hinter den Pass verschwindet. Wir kommen gemächlich, aber stetig voran und schon bald sieht man einen wunderschön blauen, kleinen See neben der Moräne, auf welcher wir aufsteigen. Bereits sind wir 25 Minuten unterwegs und haben eben den markanten Stein erreicht, zu welchem Hedy gestern noch nach dem Nachtessen gepilgert ist, um vorzusondieren, als Katrin ein Schreck durchzuckt: Sie hat ihr Handy in der Küche zum Laden eingesteckt - und vergessen!
Spontan anerbietet sich Hedy, zurückzugehen und deponiert ihren Rucksack beim grossen Stein und bedeutet uns, unterdessen weiter zu gehen.
Schon bald ist sie unseren Blicken entschwunden, obwohl man von hier noch fast den ganzen Weg bis zur Hütte überblicken kann. Dafür entdeckt jemand viel weiter unten, schon fast beim Iffigsee zwei einsame Wanderer. Mein Zoom identifiziert eindeutig unsere beiden Kameraden Hanspeter und Hans-Martin.

auch Hanspeter verabschiedet sich nochmals alle zusammen vor der Wildhornhütte das ist unser erster Aufstieg bald beim Schneefeld vor dem Chilchli der Chilchligletscher

Nun sind auch wir dort oben beim Schneefeld, wo wir den Wanderer heute Morgen gesehen haben. Aber dort ist noch lang nicht der Übergang, wie man von unten hätte annehmen können. Im Gegenteil, wir befinden uns am Fusse des Chilchligletschers und müssen zuerst den Bach überqueren, der den kleinen See entwässert, der sich dort gebildet hat. Je höher wir am Rand des Gletschers hinaufsteigen, desto mehr tritt auch der dahinterliegende, noch viel grössere Tungelgletscher in Erscheinung, welcher von ganz oben am Wildhorn herunterfliesst. Wir müssen nicht über den Gletscher, aber doch noch über grosse Schneefelder, bis uns kurz vor dem Joch bei einer kurzen Rast Hedy auch schon wieder eingeholt hat. Überglücklich kann Katrin ihr Handy wieder in Empfang nehmen. Der Weg zwischen Hütte und Stein, wo sie den Rucksack deponiert hat, hat sie seit gestern Abend nun das fünfte Mal zurückgelegt. Ich bewundere ihre Leichtfüssigkeit, mit welcher sie das Problem fast mit Links bewältigt hat.
Um Viertelvor elf haben wir das Schnidejoch auf 2760 m erreicht. Natürlich zweimal verdienter Gipfelkuss für Hedy. Wir haben nun 2 1/4 Stunden gehabt zum Raufkraxeln und der Wegweiser hier meint, für runter brauche man nur 50 Minuten. Diesen Wegweisern glaube ich nun langsam auch nicht mehr alles.
Obwohl wir nun auf der Südseite des Schnidehorns absteigen, müssen wir über mehr als 150 Höhenmeter unsere Absätze in den Schnee hauen. Herbert liebt Schneefelder nicht so sehr, aber dieses hier macht mir Spass, denn der Schnee ist nicht hart und es ist auch nicht so steil, dass man Angst haben muss, hinunter zu sausen und man kommt schneller voran als durch Geröll. Schnell sind wir auch unten, wo wieder Alpenveilchen und Gletscherhahnenfuss blühen und noch tief unten in einer Mulde am Ende einer mächtigen, glatten Felszunge, die wie ein grosser Gletscher aussieht, liegt der türkisblaue, fast kreisrunde Lac de Ténéhet, in welchem noch die letzten Schnee- und Eisreste schwimmen. Noch etwas weiter weg sieht man durch den Taleinschnitt bis zur Staumauer des Lac Tseuzier, über welchem sich aber langsam dunkle Wolken formieren wollen. Bis in zwei Stunden soll es regnen, und wir haben nun gerade etwa die Hälfte unseres Weges. Die Vorderen haben eben ein kleines Bödeli mit einem Steinmannli erreicht und bleiben flüsternd stehen, weil es sich direkt vor ihnen eine Steinbockfamilie gemütlich macht. Vorerst wird nur gegenseitig beobachtet und weil wir uns gerade hier auf diesem Bödeli zur Mittagsrast niederlassen, scheint für den Aufpasserbock auch kein Anlass, sich davon zu machen. Sechs Stück können wir zwischen den Felsbrocken vor uns entdecken, durch welche unser Weg weiterführt. Langsam bequemen sie sich nun bei unserem Aufbruch, sich zu erheben und leise machen sie sich über die Felsen bergan. In einem Schneefeld, welches die nun sieben Tiere kontrastreich zur Geltung bringt, werfen sie sich für ein Gruppenfoto in Pose.

Danke Hedy, dass zu nochmals zurück gegangen bist beim Schnidejoch nochmals grosse Schneefelder schon blüht es wieder gegenseitig wird beobachtet

Wir müssen noch bis zum runden See absteigen und von dort muss unser Weg im kleinen Tälchen hinter der glatten Felsenzunge wieder aufsteigen, denn es sind nun nochmals zweihundert Höhenmeter bis zum Col des Eaux Froides auf 2648 m. Die glatte Felsenzunge, die wir zuvor noch über gut einen halben Kilometer überqueren müssen, entpuppt sich aber aus der Nähe als garstiges Karstgestein mit Löchern, Schrunden und Spalten, wo man jeden Schritt gut auswählen muss. Der Weg ist zwar gut markiert und man kann sich an den alles überragenden rot/weissen Pfosten über die Richtung orientieren, kommt man aber nur zwei Meter von der Markierung ab, hat man sich schnell verstiegen. Auf dem Hosenboden rutschen ist nicht empfehlenswert, die Steine sind messerscharf und Blutstropfen von Vorausgegangenen auf den Steinen dämpfen gerade meine sonstige Faszination für solche Felsstrukturen aller Art. In tiefen Rinnen und Spalten liegt manchmal noch Schnee, den wir überqueren müssen, Die Sonne erwärmt den Fels und so entsteht beim Übergang eine langsam grösser werdende Spalte. Um auf den Schnee zu kommen, braucht es deshalb manchmal einen grossen Schritt. Mit Vorteil sucht man sich da die Stapfe des Vordermanns aus. Neun hat er nun getragen, aber Prisca, als Letzte steckt plötzlich bis zum Bauch zwischen Fels und Schnee. Zum Glück ist der Fels hinter ihrem Rücken nicht messerscharf und nichts ist passiert. Lachend windet sie sich aus diesem Loch und hüpft mit ihrer Leichtigkeit weiter von Spalte zu Spalte und ich beneide sie um ihre Unbeschwertheit. Aber endlich können wir aufatmen und wir haben das kleine Zwischental hinter der Karstzunge, abgesehen von ein paar Hautabschürfungen, ohne weiteres Malheur erreicht, aber es hat uns Zeit gekostet, fast eine Stunde. Am Himmel kämpfen nun die Sonne und die Wolken miteinander und meine Dampfwalze wieder mit meinem Schritt und dort weit oben, über einem riesigen Schneefeld, das wir auch noch durchsteigen müssen, liegt wieder mal ein Kaltwasserpass. Regen und Nebel begleiteten uns über jenen Kaltwasserpass am Simplon vor zehn Jahren und ich bete, dass es heute nicht ein Gewitter ist. Wenigstens ist es heute nicht so kalt und wir müssen immer wieder kurze Trinkpausen einschieben. Fast sehnsüchtig schweifen die Blicke zum Horizont. Schaffe ich das noch? Aber Gottseidank sieht das Wetter dort schon viel freundlicher aus. Immerhin weisse und höchstens hellgraue Kullerwolken, zwischen welchen man schon ziemlich viele blaue Flecken sieht, ziehen von dieser Seite her über den Himmel. Und dann, mit den letzten keuchenden Schritten wird im Bilderbuch umgeblättert und wir können ein neues, fast blendendes, ziemlich verschneites Panoramabild bestaunen. Hellblau der Lac des Audannes, umrahmt von einem fast wie ein Gletscher aussehenden Karstberg und ein bisschen erhöht mit dem Ausblick über den See, endlich die Hütte. Tastende Blicke nach rechts, zum möglichen Übergang von morgen. aber da ist alles weiss.

Lac de Ténéhet und Lac Tseuzier garstiges Karstgestein manchmal braucht es einen grossen Schritt es zieht sich bis zum Col des Eaux Froides Lac des Audannes

Immerhin hat die Sommersonne den ganzen steilen Abhang, den wir jetzt zuerst noch zu bewältigen haben, von allem Schnee befreit und überall im Geröll blüht es purpurn und gelb zwischen und auf den Steinen.
Vom Col des Audannes her bringt ein grosser Bach das Schmelzwasser herunter und entleert es über eine weite Ebene ziemlich flach bis zum See. Hingelegte Gitter wie Scharreisen, die mit grossen Steinen belegt sind, oder auch nur grosse, ins Wasser gelegte Gwäggis bilden für uns die Brücke über das ganze, breite, zum Glück nicht sehr tiefe Bachbett.
Nun noch ein letztes Mal zusammenreissen, um den Hügel mit der Hütte zu erobern! Ich staune, dass ich mich heute viel weniger nahe am Limit spüre als gestern, obwohl wir für diese sechseinhalb Kilometer heute, siebeneinhalb Stunden unterwegs waren. Profilprogramme und auch Wegweiser gestehen einem da dreieinhalb bis vier Stunden zu.
Von der Familie Hüttenwart wird man freundlich empfangen und wir bekommen im oberen Stock den Panoramaschlag mit elf Plätzen zugeteilt. Fast im Halbkreis sind die Matratzen ausgerichtet, die Kopfseite etwa doppelt so breit wie der Platz für die Füsse. Für den Rucksack bleibt in dem engen Gänglein überhaupt kein Platz mehr, den muss man in einen andern Raum outsourcen, denn in der Mitte des Raums steht im wahrsten Sinn des Wortes ein Treppen-Haus. Die Treppe darin ist so steil, dass man mit dem richtigen Fuss beginnen muss, denn jeder Tritt ist nur die halbe Treppe breit. Ich werde vorsichtig sein und heut auf die Nacht nicht mehr allzuviel trinken, denn aufs WC geht es nicht nur über diese halsbrecherische Treppe hinunter, sondern auch noch nach draussen, vor dem Haus dem Wegweiser nach hinters Haus zum Bio-WC. Genau wie vor der Tür auf dem Wegweiser klar gemacht wird, wo man nicht darf, wird hier in Bildern erläutert, wie man darf. Als Männlein auch sitzen, damit die Aggregatszustände erhalten bleiben, ansonsten das Bio nicht mehr funktioniert. Aber stinken tut es so oder so.
Es war bei unserer Ankunft vier Uhr und sogar ein milder Sonnenschein lädt vor dem Haus für ein geruhsames Stündchen bei einem Kaffee oder Bier zum Herunterfahren ein.

durch den Bach Blick zurück zum Kaltwasserpass endlich geschafft zuerst mal sich sammeln nach Minestra die Polenta

Das unverwüstliche Hedy hat auch heute noch nicht genug. "Ich bin dann mal weg" und sie will die morgige Alternative rekognoszieren. Den Col des Audanne können wir vergessen, der ist überhaupt noch nicht begehbar, selbst wenn es morgen nicht wie angekündigt, gewittern würde. Gestern sei einer vom Sanetsch her aufgestiegen - mit Steigeisen nota bene. Über den Kaltwasserpass zurück und dann auch über das Karstfeld, um zum Lac de Tseuzier zu kommen, wo zweimal am Tag ein Postauto Richtung Sion fährt, das vergessen wir auch ganz schnell. Also bleibt nur noch einer der Wege, welche nach Serin 1h50, Les Rousses 2h20 oder Anzère 3h40 angeschrieben sind und die alle zuerst über das steile Schneefeld hinter dem Haus und dann über den noch grösseren Karstbuckel als wir heute durchstiegen haben, führen. Wenigstens kommt Hedy mit einer etwas beruhigenden Nachricht zurück. Sie ist über den ganzen Karst gegangen, was kein Vergleich sei mit dem heutigen Abenteuer, bis sie auf der andern Seit auf die Alp hinunter sehen konnte. Auch das Schneefeld hinter dem Haus sei das Einzige. Zusammen mit Hans knobelt sie nun einen lohnenden Weg hinunter in die Zivilisation aus, wobei Anzère der einzige Ort ist, wo wir Chance auf eine Postautoverbindung nach Sion haben.
Ungemein beruhigt kann ich mich nun noch der Hüttenromantik hingeben. Die Minestra und auch die Polenta schmeckt mir ausgezeichnet und heute kann ich sogar bestimmt die halbe Nacht schlafen.


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