Morgens um viertel vor sechs schrillt ein telefonischer Weckruf, den wohl ein
anderer bestellt hat. Wenn der sich nun verschläft, hat er auch nicht viel
verpasst. Es hat die ganze Nacht geregnet und immer noch hängen die Wolken
tief über die Berge und in die Täler hinein. Immer noch keine Spur von
Gletschersicht. Allerdings macht es den Anschein, als ob sich die Sonne dahinter
mächtig Mühe geben würde. Bis wir um neun auschecken, nachdem
diesmal ausnahmsweise Brechfest im Hotelpreis inbegriffen war und ich bei
Rührei und Speck mächtig zugeschlagen habe, sieht man doch bereits die
Spitzen der Berge hinter dem kleinen Dörfchen und breite Streifen leuchten
blau am Himmel. Nur die Täler sind noch mit weissem Nebel ausgefüllt und
verdecken, sollten sie sich dort darunter befinden, die Gletscher.
Nebel winden sich auch den Bergen und Hügeln entlang, welche wir die
nächsten 25 km wieder durch ein Teilstück des Westland Nationalparks auf
einer Urwaldstrasse zurücklegen. Franz Josef Glacier ist etwa wie Fox Glacier,
ein kleiner Ort als Ausgangspunkt zu Gletscher Rundflügen und Exkursionen in
den Nationalpark. Einen kurzen Moment sehe ich einen Teil einer Gletscherzunge.
Stop! Gerade sind wir doch an einem braunen Wegweiser vorbeigefahren, welcher 4 km
bis dorthin angezeigt hat.
Nach diesem kurzen, ungeteerten Wegstück, welches heute wenigstens nicht
staubt, kommt man zu einem Parkplatz, von wo ein zehnminütiger Fussweg zum
Sentinel Rock Glacier View führt. Durch einen tropfenden, dampfenden, moosigen
Urwaldweg erklimmen wir eine Felsinsel, welche dem Fluss der einstigen Eismassen
widerstanden hat und von wo man das Gletschertor und das Gletscherwasser, welches
sich daraus in eine kiesige Ebene ergiesst, überblicken kann. Das Erstaunliche
daran ist, dass man sich hier in einer Höhe von nur etwa 300 müM
befindet. Der Deckel hat sich jetzt gerade so weit gehoben, dass man die ganze von
hier aus überschaubare, leicht türkisfarbig schimmernde, steile Zunge des
Gletschers sehen kann.
Auf einer Bildtafel wird gezeigt, wie frappant das Wachstums und auch Schwinden des
Gletschers in den letzen 150 Jahren von hier aus festzustellen war. Noch 1865 war
das ganze Tal bis über den Sentinel mit Eis ausgefüllt, während man
im Jahre 1974 nicht mal die Zungenspitze von hier aus sehen konnte.
Die kurze Distanz reizt uns, unten dem Fluss- und Kiesbett entlang, diesem grossen
Gletschertor noch näher zu kommen.
Irgendwo werden auch Führungen angeboten, dann marschiert man in
Einheitsoveralls in einer grossen Gruppe bis dort, oder eventuell auch noch auf den
Gletscher, was mir aber bei diesen zerklüfteten Furchen wegen seiner Steilheit
eher unwahrscheinlich scheint. Überall sind Warntafeln vor Stein- und
Eisschlag oder Flutwellen, so dass man fast ein schlechtes Gewissen hat, auf eigene
Faust diesen Pfad über den steinigen Rand des Flussbettes zu nehmen. Bald ist
René mit seiner Kamera ziemlich nahe am Fluss und ich habe Angst., dass er
sich hoffentlich nicht zu nahe ans Gletschertor wagt. Es beginnt wieder ganz fein
zu nieseln. Jetzt kann ich nicht mehr länger auf ihn warten, denn mich zwingt
etwas anderes, den Rückweg anzutreten. Obwohl der Weg durch Urwaldgebüsch
führt, getraue ich mich trotzdem nicht, den Weg zu verlassen, ich könnte
zuwenig tief eindringen und es begegnen mir doch immer wieder Leute. Ich habe schon
ab und an in einem Naturschutzgebiet in einem fest verankerten Pfosten eine Kasse
gesehen, welche um einen Obolus für den Unterhalt von Convenience Areas
bittet. Und ich nehme mir fest vor, bei nächster Gelegenheit dort etwas zu
opfern, denn ich erreiche in allerletzter Minute das Männlein/Weiblein beim
Parkplatz. Es sind immer relativ saubere, chemische Anlagen, welche gewartet und
geleert werden müssen.
Weiter geht's, wir haben heute 275 Kilometer zu bewältigen. In Whataroa wird
nochmals ein Stopp gerissen, weil wir Tip-Top gesehen haben. Es hat sogar Pure
Passion in diesem Laden-Post-Café-Kiosk. Whataroa wäre bekannt für
sein Vogelschutzgebiet für den weissen Reiher. Ein idealer Ort bei diesen
unzähligen, kiesigen Wasserläufen, welche die aufgeschwemmten Ebenen
zwischen Bergen und Meer durchfliessen. Am Ende der Ebene sind wieder Schlangen auf
den Warntafeln. Das heisst, dass über den Herkulespass eine kurvenreiche
Strecke führt. Einer hat den Hinweis in einer 25er Kurve ignoriert und nun ist
man dran, sein Auto mit einer Seilwinde aus der Tiefe eines Abgrundes zu bergen.
Dann wechselt es wieder in eine Geradeaus-Strasse, die sich am Horizont im Regen
auflöst. Irgendwann müssen ja die sieben Meter Regen fallen. So
könnte man wohl als Glückspilz gelten, wenn man hier schönes Wetter
hätte.
Regen und trübes Wetter ist heute unser steter Begleiter. Weite Strecken sind
Regenwald, also passt es doch. Wenigstens bringen die wilden Montbretien, die
überall den Strassenrand zieren, feurig orange Farbtupfer ins langweilige
Grau. Es ist eine Lilienart, die wie Minigladiolen aussehen. Einmal sind sie sogar
mit richtigen Feuerlilien gemischt.
Je weiter nördlich wir kommen, desto mehr bessert sich auch das Wetter.
Vielleicht auch, weil nun die Südalpen hinter uns liegen. Die Strasse
führt nun schon lange alles dem Meer entlang. Ein feiner Nebelstaub zieht sich
vom Meer her über das Küstengebiet. Die Bäume zeigen wieder wie
Windfahnen landeinwärts und wir kommen zu Twelve-, Fourteen- und
Seventeen-Mile-Bluff. Immer sind dies Felsnasen, um welche die Strasse
herumführt und die Wellen brechen sich an heruntergestürzten Felsbrocken
oder malerischen Inselchen. An einem Outlook macht uns ein Tourist, welcher in der
Gegenrichtung unterwegs ist, auf einen Felsbogen aufmerksam, welcher nur etwa 50
Meter vom Parkplatz entfernt und auch nur genau von dort zu sehen ist. Es ist auch
so ein herabgestürztes Felsinselchen mit einem grossen Loch mitten hindurch.
Endlich erreichen wir Punakaiki, die steinernen Pfannkuchenformationen. Wie in den
Bluffs vorhin, umspült das Meer auch hier eine grosse Felsnase und der Zahn
der Zeit, zusammen mit Brandung und Wetter haben die faszinierendsten Formen aus
den horizontal fein geschichteten Kalksteinlagen genagt und ausgewaschen. Von
Höhlen und Löchern durchsetzt, schwappt das Meerwasser durch
unterirdische Gänge und spritzt bei Flut manchmal hohe Fontänen durch
Kamine aus den sogenannten 'Blowholes'. Wie bei den Moeraki Boulders, wo die
Felskugeln aus dem Berg kullern, ist auch diese Art Gestein hier nur auf einen
kleinen Umkreis begrenzt und man weiss nicht genau, wie diese speziellen
Schichtungen entstanden sind. Ein 300 Quadratkilometer grosser Nationalpark umfasst
hier ausser den Pancake Rocks auch noch ein grosses Karstgebiet mit vielen
Höhlen. In den mit Urwald bewachsenen Hügeln entdecke ich da ausserdem
zum erstenmal die endemische Nikau-Palme, richtige Besenbäume. Wie Korallen
sehen ihre Blüten aus, dort wo der Stil im Besen steckt.
Der Weg führt zuerst durch einen dichten Bestand von gut drei Meter hohem
Neuseeland-Flax, mit sicher fünfmetrigen Blütenrispen, Cabbage-Trees und
eben Nikau-Palmen. Dank den Informationstafeln weiss ich nun, wie diese Bäume
und Pflanzen heissen und man hat sogar gute Möglichkeiten für
Nahaufnahmen. Wie viele Fotos hier von den Steinen dazukommen, wage ich gar nicht
zu erzählen. Es packt mich wieder, wie seinerzeit im Brice Canyon.
Unser Hotel müssen wir heute wieder suchen. Kein Wunder, sind wir bereits
daran vorbeigefahren, die Cottages sind richtig im Urwald versteckt, einen halben
Kilometer vor den Pfannkuchenfelsen. Die Frau von der Rezeption des Hydrangea
Motels zeigt uns das grosszügige Zwei-Zimmer-Logis mit Küche, Bad,
Terrasse und Blick vom Bett aus über ein Farnpalmendach bis zum nahen Meer. Es
ist wieder eine Alternativ-Unterkunft zum gedruckten Programm.
Verpflegungsmöglichkeiten gibt es zwei, nämlich im Hotel welches eben
ausgebucht war, 100 Meter weiter und ein Restaurant in der nächsten Bucht.
Inzwischen ist nun sogar der Himmel blau geworden und ich kann auf dem Balkon meine
noch nicht trocken gewordene Wäsche in der Abendsonne nochmals aufhängen.
Die Zikaden ringsum im Wald machen einen Saukrach und schwirren einem regelrecht um
die Ohren. Solange nun noch so schönes Licht ist, machen wir uns auf an die
Bucht. Diese ist auf beiden Seiten mit solch interessanten Omelettentürmen
begrenzt und das Meer bringt mächtig rauschende Wogen daher, welche hier unten
an einer ganz weissen solchen Riffelklippe arbeiten und nagen.
Auch wir möchten endlich mal was zwischen die Zähne, im gediegenen
Hotelrestaurant haben wir jedoch kein Glück. Da gibt's erst um halb neun
wieder Platz. Also holen wir das Auto und fahren halt zur Taverne in die
nächste Bucht. Dort ist es auch viel urtümlicher und gemütlich. Es
gibt Frühlingsrollen, Pommes und für mich Ribeys.
Gesättigt und zufrieden verlassen wir das Lokal und schaffen es gerade, uns
auf den Steinen draussen am Ufer einen Logenplatz zu sichern. Goldgleissend
versinkt eben die Sonne aus einem inzwischen wolkenlosen Himmel weit draussen im
Meer.
Die Zikaden daheim sind verstummt und wider Erwarten können wir ohne
Ohrenstöpsel eine sternenklare Nacht mitsamt Meeresrauschen vom Bett aus
geniessen.