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Ein freundlicher Morgen begrüsst uns. Sogar blauer Himmel, dort, wo sich nicht
gerade morgendliche Nebel über den Bergkamm wälzen. Nur hinunter ins Tal
sieht man auch heute nicht. Ich habe nichts dagegen, wenn sich für die
dreihundert Meter Aufstieg die Sonne ab und zu hinter Nebelschleiern versteckt.
Recht schnell schon liegt die Hütte auf ihrem Bödeli weit unter uns.
Enzian und Schwefelanemonen blühen neben dem Weg und auf der Krete beim Passo
Gagern schaut eine Herde Ziegen wunderfitzig zurück auf uns schnaubende,
vollbepackte Zweibeiner, ehe sie leichtfüssig auf die andere Seite des Kammes
entflieht und uns alle Murmeltiere verscheucht. Mit dem Übergang haben wir
nicht nur auf die andere Bergseite gewechselt, sondern sind auch über die
Kantonsgrenze ins Bündnerland gekommen. Das Calancatal gehört also nicht
mehr zum Tessin, wie ich und auch viele andere gemeint haben.
In einem von Felsbändern umgebenen, fast kraterähnlichen Halbrund
mäandrieren auf der Alp de Mem junge Bächlein. Es scheint noch nicht
lange her, seit der Schnee sich mit ihnen durch ein enges Tobel und wahrscheinlich
viele Wasserfälle hinunter, der Calancasca entgegen dünn gemacht hat. Die
Weiden beginnen zu grünen und hier oben blühen sogar die Steine.
Das kräftige Pink vieler herrlicher Leimprimeln leuchtet aus Ritzen und Spalten des schiefrigen Gesteins. Hier eine kleine Rast, damit man das Wunder noch besser verinnerlichen kann, eine Nächste am glitzernden Bergbach, welcher über moosige Steine plätschert. Wir liegen falsch in der Annahme, jenseits des Übergangs gehe es nur noch hinunter. Weit drüben, ein paar Schneefelder weiter, warten auf einem Sattel zwei Steinmannli auf uns.
Auf der andern Seite scheint der Nebel noch zäher an den Felswänden zu
kleben. Zwei Sennhütten kommen nun bald in Sichtweite. Rechts die Alp
Stabveder, erschlossen durch einen in grossen Zickzacken angelegten, hässlich
aussehenden Fahrweg und links, etwa anderthalb Kilometer davon entfernt und nur
über einen Wanderweg erreichbar, die Alp di Rossiglion.
Ein Mann überholt uns leichten Schrittes. Es muss wohl der Senn sein, denn er
spricht mit den Geissen, welche sich am jungen Grün bis weit hier hinauf
gütlich tun. Wunderfitzig sind sie, denn während einer Verschnaufpause
sind sie nun fast bis zu uns heraufgeklettert in der Hoffnung, es falle eventuell
etwas für sie ab. In einiger Entfernung, den Überblick über seine
Schar behaltend, posiert der Geissbock auf einer Felsplatte. Unverkennbar und
unverwechselbar, dieser schwarze, stattliche Bock mit einem langen Bart und
orangefarbigen, grossen Hörnern. Mit leuchtender Signalfarbe hat man ihn
gekennzeichnet. Auch die Ziegen haben orange oder gelbe Hörner. Vielleicht
erkennt man sie so besser als mit den Brandzeichen und es ist erst noch
schmerzlos.
Die Alp di Rossiglion ist nicht nur von Geissen bevölkert, nahe der
Sennhütte weiden Kühe sogar zusammen mit einem schwarzen Muni. Dass es
nicht nur ein einziger Esel ist, dessen Gebrüll man bis weit hinauf vernehmen
konnte, sieht man erst beim Näherkommen. Der Wanderweg führt mitten durch
die Weide einer ganzen Herde von braunen oder auch gefleckten, aber keinen grauen
Eseln. Hinter der Wegbiegung hat es schon wieder Lärchen. Sie stehen erst
vereinzelt zwischen grossen Felsbrocken und niederem Gebüsch in von Alpenrosen
überwuchertem Gelände. Letztere haben noch nicht ganz Hochsaison, erst
vereinzelte Knöpfe haben ihre Blüten geöffnet. Es ist wieder Zeit
für einen kurzen Zwischenhalt. Einer Gämsmutter, welche mit ihrem Kind
wohl auch in der Nähe gelagert hat, wird das aber wohl doch zu mulmig und sie
nimmt Reissaus. Mit grossen, eleganten Sprüngen flitzen die beiden sicher
über Stock und Stein. Auch das Junge mit seinen noch zierlichen Beinchen,
macht es schon wie eine Grosse. Ein kurzer Spuk und sie sind im Unterholz
verschwunden.
Wir wählen nicht die Direttissima, welche von hier im Zickzack steil nach
Landarenca hinunterführt. Hans erinnert sich an einen wunderschönen
Waldweg mit sanfterem Gefälle, welchen er vor etwa drei Jahren genommen hat,
als er von Landarenca über die Brogoldone-Hütte zur Seilbahn auf den
Monti Saurù gewandert ist. Spätabends am gleichen Tag war er wieder in
Basel.
Zwischen Grasbüscheln und mit Moos bewachsenen Steinen ans Tageslicht
getretenes Wasser kreuzt einmal unseren Wanderweg, welcher einen bald gut
gepolstert durch einen herrlich duftenden Lärchenwald immer weiter hinunter,
zuerst auf Boliv, ein zu Landarenca gehörendes Maiensäss führt.
Meine Beine sind müde, aber es sind immer noch fast 200 Meter Abstieg.
Für einen kurzen Moment habe ich die Dächer von Landarenca erspäht.
Das Ziel nun in Reichweite zu wissen, löst in meinen Beinen ein echt komisches
Gefühl aus. Diese meinen, sie schaffen das nicht mehr. Ich muss ihnen direkt
gut zureden und sie ablenken mit dem Anblick der wunderbaren, blühenden Wiese
mit halbmeterhohem Gras, durch welches wir am Schluss noch auf schmalem Pfad
hinunter bis zur Seilbahnstation kommen.
Der Charme des Dörfchens, welches auf einer Sonnenterrasse auf einem steilen
Felsen hoch über dem Talgrund liegt und dessen steingedeckte Häuser sich
in einem Halbkreis eng um den Glockenturm seiner Kirche drängen, lässt
einen alle Müdigkeit vergessen. Unsere Herberge für die nächsten
drei Nächte befindet sich im ehemaligen Schul- und Gemeindehaus und wir
müssen uns zuerst beim Wirt im Restaurant melden. Wir folgen der Hauptstrasse,
einem Fussweg mit unbearbeiteten Steinen besetzt und in der Mitte etwa einem
halbmeterbreiten Band aus Calancataler Felsplatten belegt. Autos gibt es hier
nicht. Man erreicht das Dörfchen nur zu Fuss oder mit der Seilbahn, welche in
den sechziger Jahren errichtet und vor vier Jahren als Selbstbedienungs-Gondelbahn
modernisiert wurde.
Die Vorgänger-Gruppe in der Herberge ist eben erst am Aufbrechen und so kommt
unser Wirt gerade etwas ins Schleudern. Er verteilt frische Kissenbezüge
für die Lager und muss im untern Geschoss, wo eine gut eingerichtete
Küche und ein Aufenthaltsraum sind, noch zum Rechten sehen. Unsere Ehepaare
können im oberen Stock die kleinen Zimmer beziehen, uns ‚ledigen
Jumpfern' teilt Hans das grosse Zimmer mit sechs Kajütenbetten zu. Wenn heute
Abend noch Margrit und Esther kommen, sind wir dann zu fünft. Das Haus ist neu
renoviert und hat offensichtlich ganz neue WC- und Dusch- Anlagen bekommen. Die
Fassade ist noch eingerüstet und die Maler sind an der Arbeit. Deswegen
schleppt man auch Baustaub mit ins Haus und Esti, die bereits barfuss herumspeedet,
behauptet, es habe Brösmeli am Boden. Also will sie von Herrn Keller einen
Putzlappen zum Aufwischen. Dies wiederum will er aber nicht zulassen und
höchstpersönlich kommt er mit dem Staubsauger und bringt die Sache in
Ordnung.
Wenn man bedenkt - er als ehemaliger Stadtpräsident von Effretikon! Das hat
mir meine Schwägerin hinterher erzählt, dass er vor 32 Jahren das Rennen
vor der SVP gemacht habe und seither werde Effretikon von der SP regiert. Etwas
resigniert meint sie:"Wenn ich nur schon an unser grässliches Stadthaus denke,
das hat unser Stapi Rodolfo Keller verbrochen und noch so einiges mehr. Sogar die
Strasse vor dem Stadthaus wurde mit Steinen vom Calancatal bestückt. Aber
kochen kann er und glücklich ist er offenbar auch, eigentlich richtig
beneidenswert, er hat sein Glück wohl nicht gerade in Effretikon gefunden,
sondern erst viel später". Die Partnerschaft der Gemeinden Arvigo-Landarenca
und Illnau-Effretikon führt also auf jene Aera zurück.
Noch ehe man ganz installiert ist, erscheint Knud mit einer Flasche Gamal Dansk,
auf dass wir auf unsere diesjährige Sommerwanderung, das Wiedersehen und
unsere Freundschaft anstossen können. Die schwere Flasche wird beim Packen des
Rucksacks nicht auf die Waage gelegt. Er lässt es sich nicht nehmen und
überrascht uns auch dieses Jahr wieder mit dieser uns bereits liebgewordenen
Tradition.
Um halb sieben Uhr erwartet uns Herr Keller bereits zum Nachtessen weiter oben an
der Strasse mit kleinen Käsebällchen aus verschiedenem, hiesigem Geiss-
und Schafkäse als Appetizer. Er gibt sich Mühe, uns nicht nur mit dem
Essen ‚sein' Dorf näher zu bringen. Er erklärt sich bereit, uns
anschliessend bei einer kleinen Führung etwas von Landarenca zu zeigen.
Es beginnt schon in der Wirtsstube, wo historische Bilder an der Wand hängen.
Das Prunkstück ist ganz offensichtlich die Urkunde, welche Batista Margna im
Jahr 1849 am ersten Eidgenössischen Schützenfest in Aarau als
Schützenkönig erhalten hat. Die Hälfte des sagenhaften Preisgeldes
von 350 Franken spendete er für den Bau des Schiessstandes, welcher heute noch
in Betrieb ist.
Rodolfo Keller macht uns aufmerksam auf die typische Siedlungsform, wie die
Häuser in Form eines Strahlenkranzes dem Hang entlang gebaut wurden, welche
alle die gleiche Grundstruktur aufweisen: auf einem gemauerten Untergeschoss das
Wohnteil oder Scheune aus Lärchenholz und gegen den Hang, geschützt wegen
dem Föhn, die aus Stein gemauerte Küche. Die Strasse führt fast auf
Dachhöhe an der Giebelwand vorbei. Das hatte den Vorteil, dass man die
schweren Firstbalken aus Lärchenholz, welche die Last des Steindaches tragen
müssen, besser anbringen konnte. Viele der Häuser hier sind schon ca. 500
Jahre alt.
Der steinerne Tisch vor der Kirche ist ein Relikt aus alter Zeit. Hier sassen die
Vorgesetzten und der Schreiber, wenn Gemeindeversammlungen abgehalten wurden. Stolz
sind die Landarencer auch darauf, dass sie zusammen mit Zürich die erste
Gemeinde waren, welche in den 60er Jahren das Frauenstimmrecht eingeführt
haben.
Auch die Kirche ist ein kleines Schmuckstück, ein gutes Beispiel für
volkstümlichen Barockbau. Als wir ankamen, war gerade Gottesdienst und die
Tür stand offen, aber wir wollten dort nicht unsere Nasen hineinstrecken.
Jetzt setzen wir uns, wie uns Herr Keller empfiehlt, auf die linke Seite, damit die
junge Maria in der Verkündungsszene von ihrem Sockel von der Decke herab auch
uns ins Herz hinein schaut. Man vernimmt in der Kirche die unglaublichsten
Geschichten von Land und Leuten und am Schluss testet Ruedi die Akustik mit seiner
schönen Stimme in einem Abendgebets-Lied.
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