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Hell strahlt ein wunderschöner, sonniger Morgen zu den grossen Fenstern im
Aufenthaltsraum herein. Klar leuchtet der Schnee von den Viertausender der andern
Seite des Rhonetals herüber und wir wandern ohne Sorgen, singend in den Morgen
und nach Steinböcken Ausschau haltend, dem ziemlich eben weiterführenden
Pfad dem Hang entlang nach Rionda. Da hat man gestern von den grossen Fenstern aus
ein grösseres Gebäude gesehen und beim Näherkommen sieht es nach
einer verlassenen, nicht mehr gebrauchten Militäranlage aus. Wahrscheinlich
verdankt man auch dem Militär diesen Weg, der hier hoch oben auf
abenteuerlichem Pfad über steil abfallenden Felsbändern, aber ohne grosse
Höhenunterschiede zur Alp Le Dzéman führt.
Langsam schiebt sich die Sonne auf der andern Seite der über uns aufragenden
Felsen immer höher gegen deren bizarre Zacken und zeichnet zuerst tief unten
das Schattenbild der Dents de Morcles über St-Maurice und Evionnaz auf den
Rhonetalboden. Steinböcke heben sich als Silhouette gegen den gleissenden
Morgenhimmel ab. Belustigt schauen sie auf uns herunter, in der Gewissheit, dass
wir für sie weder Gefahr noch Konkurrenz sein können.
Dann hat die Sonne die Gipfel erreicht und flutet mit ihrem fliessenden Gold die
steilen Bergwiesen auf unserer Seite. Von uns wirft sie lange Schatten den Hang
hinunter und drüben bewegt sich langsam eine bucklige Karawane an einer kahlen
Felswand wie in einem Schattentheater über einen Grat. Die Wärme erweckt
tausende von kleinen Faltern zu ihrem kurzen Leben und ihr Tanz von Blume zu Blume
scheint wie ein Wetteifern um den Weltrekord im Nektarsammeln zu sein. Man muss
sich ja beeilen, denn nicht lange stehen die Bergwiesen in so wunderbarer
Blütenpracht und geeignete Verstecke für die Eiablage müssen
vielleicht gar heute noch gefunden werden.
Den Weg kann man gut sehen, wie er manchmal knapp oberhalb einer steilen Felswand
über ein Grasband führt. Manchmal ist an abschüssigen Stellen ein
Drahtseil angebracht, das einem ein bisschen Sicherheit gibt. Dann kommt ein Bach,
den wir queren müssen. Er hat einen tiefen Einschnitt ins Gestein gefressen
und atemberaubend sieht der Wanderweg auf der vor uns stehenden Felswand aus.
In grossen Zickzacks ist er in die senkrechte Wand gehauen worden und sicher
fünfzig Meter tiefer unten führt er im Schatten der Felswand wieder
weiter. Befindet man sich aber einmal auf diesem Felspfad, empfindet man es gar
nicht so schlimm, wie es vorher ausgesehen hat.
Schon bald haben wir den weiten Alpkessel Le Dzéman erreicht. Hier leuchtet
die ganze Alpweide von seidig glänzenden ‚Chutzbuebe', wie ich den
haarschopfartigen Fruchtstand der Anemonen nenne. Was für ein Bild muss das
vor zwei, drei Wochen gewesen sein, als alles noch schwefelgelb blühte!
Schon lange und von weitem hat man den Weg in seinem grossen Zick und Zack in
diesem Alpkessel gesehen, der nun anzusteigen beginnt und bei 2361 Metern den Col
du Demècre erreicht. Eindrücklich ist von hier aus ein Blick
zurück auf den Weg, der uns über hohe Felsbänder und an steilen
Abhängen entlang hierher geführt hat. Das Wetter lässt heute auch
eine herrliche Aussicht hinunter ins Rhonetal bis zum Genfersee zu. Bei Regen
hätten wir die Schlechtwettervariante nehmen und gute 400 Meter bis unterhalb
der gefährlichen Felsen absteigen müssen.
Wir überqueren hier die Krete jenes Berges, der sich wie ein Keil ins Rhonetal
hineinschiebt und der schuld ist, dass die Rhone an seinem Fuss bei Martigny diesen
Knick von 90 Grad machen muss und von der gegenüber liegenden Seite
grüssen uns nun die Gletscher des Grand Combin und Mont Blanc-Massivs. Die
Cabane du Demècre versteckt sich in einer Mulde zuoberst auf dem Pass,
hinter einer vielleicht zehn Meter hohen Felsmauer, auf welcher die Schweizerfahne
auf die Seite des Montagne de Fully hinunter winkt, auf der wir nun unseren Abstieg
beginnen.
Bald sieht man auch schon die SAC-Hütte einsam und verschlafen hoch oben am
Col de Fénestral. Ein uns ankündigendes Telefon (man hat hier oben
sogar Empfang) beruhigt - sie erwarten uns! Wir wählen den Weg am Ufer des
oberen Lac de Fully entlang, welcher hinten im Tal dann noch etwas steil ansteigt.
Gegen vier Uhr haben wir's geschafft und die Cabane du Fénestral auf 2453
erreicht. Erhitzt und verschwitzt wäre eine Dusche jetzt das höchste der
Gefühle. Immerhin, ein Bierchen kann man bekommen und auf Anfrage auch ein
kleines Plastikbecken mit etwas Wasser für eine gute Katzenwäsche. Da
nützt es mir nichts, dass meine Bluse ultraschnell trocknend ist, zum Waschen
gibt es kein Wasser. Das Plumpsklo steht in sicherer Entfernung vom Haus weg
über einer Felswand. Der Weg dorthin wird in der Nacht von zwei vom
Sonnenlicht aufgeladenen Lampen beleuchtet. Händewaschen kann man am
Spültrog in der Küche. Das vom Dach gesammelte Regenwasser muss aber
zuerst mit einem Hebel in den Spülkasten oberhalb der Armatur gepumpt werden.
Da würde man das Wassersparen noch lernen!
Viel Platz gibt es in der Hütte nicht. Küche, Aufenthalts- und Esszimmer
ist alles ein einziger Raum. Ein kleiner Teil ist mit einer Tür als Privatraum
für die Belegschaft abgetrennt und mit fünf Tischen und einem eisernen
Ofen ist die Stube bereits ziemlich vollgestopft. Im oberen Stock ist das
Massenlager und wir breiten uns etwas aus, indem wir jede zweite Matratze belegen.
Es sind auch noch etwa sechs andere Gäste hier, aber trotzdem kann ich mir nur
schwer vorstellen, wo 45 Leute hier beherbergt sein wollen, wie dies im Prospekt
behauptet wird. Vielleicht dann in der neuen Hütte, die nach den neusten
Anforderungen bis übernächstes Jahr hier gebaut sein wird und wofür
man jetzt schon rege Propaganda macht. Die Hütte gehört dem Ski Club
Chavalar und wird wochenweise von Freiwilligen bewartet.
Bis es Nachtessen gibt, übrigens ähnlich wie gestern zuerst eine Suppe,
dann Reis und geschnetzeltes Fleisch, kann man rund ums Haus und auf dem nahen Pass
auf Fotojagd gehen. Von Männertreu übersäte Wiesen und wie
aufrechtstehende Kolben darin die Strauss-Glockenblumen, das Murmeltier hinter dem
Kabäuschen und die ewig hungrigen und alles fressenden Bergdohlen sind unter
anderem meine Trophäen.
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