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Wer heute Nacht auf eine kleine Wanderschaft musste, hat immerhin einen sagenhaften
Sternenhimmel erleben können und am Morgen spannt sich wiederum ein fehlerlos
blauer Himmel über die Alpenwelt. In der Mulde, von wo wir gestern
heraufgestiegen sind, liegt der See noch bleiern im Schatten des Grand Chavalard.
In Ermangelung von Wasser, will ich heute den Trick anwenden, den man den Kindern
gegen Märzentupfen verrät: Den Gesichtslappen mit Morgentau benetzen.
Allein, das Gras ist heute furztrocken und so beschliesse ich halt, weiter zu
stinken. Man schmiert sich einfach gut mit Sonnencrème ein und kaum sind wir
aus dem Haus, ist auch für heute schon der erste Pass, der Col de
Fénestral erreicht. Im Morgenglanz heben sich, immer heller werdend,
verschiedene Bergrücken voneinander ab. Man könnte sich nicht
träumen lassen, dass wir heute Abend dort drüben auf dem Sattel des
entferntesten Rückens sein und dem spitzen Gugelhopf, der Pointe de Chemo ganz
nah sein werden.
Zuversichtlich nehmen wir den ersten Abstieg in Angriff. Heimtückisch wird
Annigna ein Stolperstein und Rollkies zum Verhängnis. Als ob sie einer Maus
nachrennen wollte, probiert sie sich aufzufangen und noch eh sie ganz am Boden
angelangt ist, tönt das Echo meines Entsetzensschreis von der nahen Felswand
wider. Zuerst den Rucksack weg und ihr erster Griff findet die Notfalltropfen,
welche helfen, einen Schock des Körpers aufzufangen. Welche Erleichterung zu
sehen, dass Aufstehen noch funktioniert. Von hinten hat der Sturz bös
ausgesehen. Aber alles ist noch ganz oder fast. Am Oberarm hat sie eine
Schürfung, wo sich die Haut überflüssig vorkommt und welche man
abschneiden muss. Ich denke, dass der Engel, der sie aufgefangen hat, dort seine
Finger nicht ganz fest zusammen gehalten und ein Stein die Gelegenheit
ausgenützt hat. Auch das Knie hat seinen Schreck mit abbekommen, aber nachdem
sie aus Hanses Apotheke fachmännisch verarztet worden ist, nimmt Alles an ihr
seine Aufgabe wieder wahr und Annigna bleibt weiter mit ihrem vorbildlich und
sicher bemessenen Tritt der Schrittmacher, in dessen Stapfen ich bis jetzt die
steilsten Hänge erklommen habe.
Ein Wegweiser in der leicht sumpfigen Ebene Euloi, wo glückliche Kühe mit
ihren Glocken ein friedliches Morgenkonzert veranstalten, verspricht uns noch
dreieinviertel Stunden bis zur Cabane Rambert, aber ich habe das Gefühl, dass
wir hier schon noch etwas mehr berechnen müssen, denn wie wir auch schon
feststellen mussten, haben noch viel Jüngere als wir die angeschriebenen
Zeiten bei weitem überboten.
Bald sind wir wieder bis zur Waldgrenze abgestiegen. Man sieht jetzt weiter ins Tal
hinunter nach Ovronnaz, von wo eine Sesselbahn viele Wanderer und
Spaziergänger hier nach Jorasse heraufbringt. Einem relativ steilen Hang
entlang geht's für uns über ein glatte Felsplatte und vorbei an Blumen
und Blümchen am Weg immer noch weiter leicht hinunter bis auf knapp 1800 Meter
in Saille, wo wir uns vor dem hier beginnenden Aufstieg von über 900 Meter
erst mal stärken. Mit Sicht hinunter aufs Rhonetal und Nendaz am
gegenüberliegenden Hang, funktionieren die Handys und Grüsse und SMS von
zu Hause und aus dem Appenzellischen dringen durch den Äther zu uns.
Dann wollen wir's also packen. Unsere Herausforderung besteht aus drei Etappen.
Keuchend und schwitzend erreicht man ein kleines Bödeli, auf welchem in
kiesigem Bett ein Wässerchen mäandert und für Kinder einen
herrlichen Spielplatz bietet. Man kann sich wieder ein bisschen regenerieren, bis
man hinten im Bödeli angelangt ist und die zweite Etappe in Angriff nimmt. Im
Visier hat man den schönen Wasserfall, der von der Kante des nächsten
Bödelis herunter stürzt. Auf diesem Bödeli sammelt sich das Wasser
aus den letzten Resten der Schneefelder von den Flanken des Petit und Grand
Muverans auf deren Weiss sich Steinböcke kontrastreich abheben, so dass man
sie von blossen Auge gut sehen kann. Bestaunenswert ragen hier die zerkneteten
Felsmassen auf der einen Seite und die sandige, fast wie Elefantenhaut aussehende
Frête de Saille, dem Sattel zwischen dem Grand und dem Petit Muveran auf der
anderen Seite auf.
Hinter den zerknautschten Felstürmen auf dieser Seite sieht man den steilen
Weg der dritten Etappe bis zu einem noch grünen Hügel ansteigen, auf
welchem eine rote Schweizerfahne winkt, also ist unser Ziel in Sicht! Um halb drei
haben wir den Übergang erreicht aber noch fordert uns eine allerletzte, kurze
Anstrengung heraus, bis die Hütte mitsamt ihrer Terrasse vor dem Haus und dem
Plumpsklohäuschen, ein bisschen abseits über der Felswand, voll ins
Blickfeld rückt, ganz zu schweigen von der sagenhaften Aussicht von hier oben.
Am Horizont das weisse Spitzenband unserer Walliser Alpen vom Grand Combin, Weiss-,
Zinal-Rothorn und Dent Blanche bis zum Cervin, dem Matterhorn, welches uns von
diesem Blickwinkel aus aber einen ziemlich breiten Rücken zeigt. Sicher eine
gute Möglichkeit von hier aus heute Abend viele Höhenfeuer zu sehen.
Bei einem erfrischenden Bierchen kann man zuerst mal etwas regenerieren. Der
Eintrag im SAC-Hüttenbuch bestätigt dokumentarisch, dass wir es
geschafft haben: Hans und Annigna Sutter mit ihren 80 Lenzen und 8 weiteren
Bergvagabunden waren heute, am 1. August 2012 hier in der Cabane de Rambert zu
Gast. Wir haben einen Schlag mit 11 ½ Matratzen zur Verfügung, drei in
der wegen einem unnützen Brett fast nicht zu erklimmenden Höhe und 8
½ unten, eng an eng und es wird noch enger, denn der Wirt hat noch zwei
ganze Personen bei uns einquartiert ergibt also 5 auf 4 ½ Matratzen.
Die Hütte ist also ausgebucht und der Hüttenwart verwirft gerade seine
Hände, als noch ein unangemeldeter Gast eintrifft. Zum Glück hat dieser
ein Zelt mit dabei und er muss sich nun einen geeigneten Platz dafür suchen
gehen.
Nachdem also unser Nestchen einschlupfbereit ist, Kopf und Füsse wieder etwas
ausgekühlt sind und versurrt haben, kann man auf Entdeckungsreisen rund ums
Haus gehen. Bereits kommen die Ersten wieder angerannt, um Feldstecher und
Fotoapparat zu holen: Steinböcke wurden gesichtet! Ganz nah hinter dem Haus
suchen drei Jungtiere ihr Gras zusammen, während sich in grösserer
Distanz der Aufpasser-Bock als Sicherungselement für das Rudel weiter hinten
auf dem Wanderweg postiert.
Hans probiert aus, wie nahe der Bock ihn an sich heran lässt und ich kann ihn
nun um seine Nahaufnahme beneiden. Ein bisschen später werden etwas unterhalb
noch mehr Tiere entdeckt. Es scheint, dass diese sich hier etwas an die Menschen
gewöhnt haben und nicht so schnell fliehen, so dass ich bereits wieder die
Qual der Wahl habe, welche Bilder davon es in meinen Bericht schaffen.
Bis man zum Nachtessen gerufen wird, kann man noch gemütlich den verbleibenden
späten Nachmittag im Freien geniessen, oder sich jetzt um seine Blasen an den
Füssen zu kümmern. Ein Kalt-Wasserhahn neben dem Klohäuschen
animiert heute zu einer unwesentlich intensiveren Katzenwäsche als gestern.
Allein das Bild einer Nassrasur unter freiem Alpenhimmel finde ich hingegen genial.
Langsam beginnt sich allerdings der Alpenhimmel zu verdüstern. Über den
Dents du Midi und Mont Blanc türmen sich dunkle Gewitterwolken und bis wir
unser heutiges Reisgericht zum Dinner und die Schoggicrème mit Birne zum
Dessert vertilgt haben und uns in Erwartung spektakulärer Höhenfeuer und
Feuerwerke in Nah und Fern draussen postiert haben, beginnt es bereits zu
tröpfeln. Diese Spielverderber! Dabei hat der Hüttenwart extra drei
Vulkane organisiert und diese werden nun, begleitet von der Landeshymne
entzündet, obwohl es noch nicht ganz dunkel ist. Auch auf Französisch
kennt man gerade knapp die erste Strophe. Über der Pointe de Chemo entwickelt
sich auch ein spezielles Feuerwerk. Langsam zieht eine dunkle Wolke darüber
hinweg, aus welcher unten die Blitze zucken und darüber sich ein fast voller
Mond unsere Aufmerksamkeit zu erkämpfen sucht. Trotz allem ist die erwartete
Sintflut bis jetzt noch nicht gekommen und da und dort beginnen nun doch die
Höhenfeuer zu leuchten und später sehe ich gar von meinem Bett aus ein
Feuerwerk zuoberst auf der nahen, kegelförmigen Spitze eines Berges und es
sieht aus, wie ein veritabel ausbrechender Vulkan. Bald darauf begleitet
trommelnder Regen auf dem Dach das nun mit Blitz und Donner vorüberziehende
Gewitter.
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