zum vorherigen Tag 1. August 20125 zum nächsten Tag

Auch heute bleibt die Regenhaut wieder ziemlich in Griffnähe. Noch regnet es draussen, während wir halt einfach ein bisschen ausgedehnter zmörgeln. Es reisst einen nicht fest nach draussen und man muss im Nebenstübli noch das grosse Foto gesehen haben mit dem erlegten letzten Schweizer Bären. Mich fasziniert auch die Haustüre mit ihren alten Beschlägen und ich frage mich, ob wohl das Scharnier, das aus einem senkrechten Balken besteht, welcher auf einem Stein gelagert ist und oben mit einer hölzernen Öse gehalten wird, noch funktioniert, wenn man das ganze Tor öffnen will. Rustikal sieht die zweiteilige Scheunen-Stall-Türe auf jeden Fall aus. Auch die Jagdtrophäen an den Wänden verleiten mich wieder zu Schabernack und Knud muss von mir als Steinbock im Sternzeichen und ausserdem auch noch im Aszendent mit meiner Kamera nun mal ein richtiges Steinbockbild knipsen.
Bis um neun, der verabredeten Abmarschzeit, hat es immerhin aufgehört zu regnen, doch wir bleiben lieber auf dem Fahrweg, um nicht zu Beginn schon nasse Füsse zu bekommen. Das heutige Profil sieht eigentlich ganz passabel aus: 500 Meter sanfter Aufstieg verteilt auf 10 Kilometer bis zum Pass da Costainas und dann 400 Meter wieder Abstieg bis Lü.

Haustüre im Crusch Alba entlang der Clemgia Pilze wachsen auf dem Tisch Regen oder nicht? eine schöne Dame

Wir sind nun gerade eine Stunde unterwegs, als wir wieder genarrt werden. Regen? Aber nur, bis wir uns eingepackt haben und schon ist es wieder vorbei.
Nach der Plan d'Immez, wo bei einem Picknickplatz aus den Ritzen auf dem hölzernen Tisch tatsächlich zwei wunderschöne, grosse Pilze spriessen, die allein fast eine Mahlzeigt geben würden, zweigt der Weg nun vom Fahrweg ab und steigt über die Alp Tamangur Dadora, dem God Tamangur, dem höchstgelegenen, zusammenhängenden Arvenwald Europas entgegen. Erst seit wir in S-charl angekommen sind, ist mir wieder bewusst geworden, dass wir vor zehn Jahren mit Hans diese heutige Wanderung über die Alp Astras bis S-charl, allerdings vom Ofenpass aus, gemacht haben und die Bilder an diese wunderbaren alten Arven sind mir nun wieder präsent. Jene riesige, zweistämmige Arve, auf deren ausladendem Alphorn-Ast wir alle wie auf einen Pferderücken geklettert sind und daneben der hohle Baumstamm, in welchen Hans dort gekrochen ist. Nun sind wir am Ort des Geschehens und - alles ist anders. Der zweite, grosse Stamm des Baumes liegt am Boden, von Sturm oder Unwetter geknickt, nackt und bloss ohne Rinde dem Verfall und Moder preisgegeben. Es macht richtig traurig. Dafür haben die andern, die uns ein bisschen weiter voraus sind, ein spezielles Erlebnis. Ein Wiesel kreuzt nicht nur ihren Weg, sondern posiert geradezu und demonstriert seine Wendigkeit auf dem Weg vor ihren Füssen hin und her. Dank iPhone hat Dani ein Filmchen von der Darbietung und er lässt uns nachher alle auch daran teilhaben.

Schuss... ...Gegenschuss die uralte Arve heute... ...noch vor zehn Jahren.... ...hat sie uns alle getragen

Bald werden die hohen Bäume wieder kleiner und vereinzelter und grüne, weite Alpwiesen lösen den Wald ab. Wir kommen wieder hinunter zum Fahrweg, welcher emsig von Bikern benützt wird, hinüber zur Alp Astras, wo wir letztes Mal zu einer Milch und Hirschsalsiz eingekehrt sind. Diesmal lassen wir die Alphütte links liegen, es ist einfach zu unfreundlich und kalt, man will in Bewegung bleiben. Hinter dem Haus teilt sich nun der Weg: der eine führt hinauf zum Ofenpass und dem andern folgen wir immer noch sachte ansteigend Richtung Pass da Costainas. Hier ist die Clemgia noch jung und munter mäandert sie durch das satte Grün der Alpweiden, während uns der steinige Weg durch einen niedrigen Wald aus Legföhren immer mehr dem Nebel entgegen führt.
Ohne grosse Anstrengung ist auch bald schon der Pass erreicht, einmal nicht als neu aufgeschlagene Seite in einem Bilderbuch. Es ist grau in grau und Nebel wallen rund um uns her. Alles ist nass und es kommt keine grosse Lust zum Picknicken auf. Ich meine, auf meiner Karte ein Haus mit einer Fahne gesehen zu haben und Dani bestätigt mich, dass auf der Alp Campatsch an unserem Weg ein Restaurant zu finden sei. So wollen wir also noch bis dort durchhalten und probieren, auf dem nun etwas steilen Weg hinunter nicht gerade Opfer der Mountainbiker zu werden. Dank dem eingeschalteten GPS auf meinem Handy kann ich nun ziemlich genau sagen, wann wir zur Abzweigung kommen, die uns zur Ustaria Posa führt, im Nebel würden wir nämlich daran vorbei marschieren.

weiter im God Tamangur auf der Alp Astras jetzt sind es Legföhren auf dem Pass Costainas Ustaria Posa...

Es ist ein grosses, neues Gehöft. Der moderne Stall ist leer, da irren wohl alle Bewohner draussen im feuchten Nebel umher. Auf der grossen Terrasse vor dem Haus hat niemand Lust, abzusitzen, obwohl uns drei Kinder höflich dazu auffordern. Die geschlossenen Sonnenschirme tropfen noch und Stühle und Bänke sind auch nass. Die Rucksäcke deponieren wir draussen unter dem Vordach, denn die Gaststube ist winzig klein. Wenn wir ein bisschen zusammenrutschen, haben wir am langen Tisch neben den drei anderen Gästen gerade alle Platz. Eine heisse Suppe wäre sehr willkommen und man kann sogar von drei verschiedenen Sorten eine wunderbare, selbstgemachte Bündner Gerstensuppe wählen. Auch gebacken hat man, schliesslich ist heute der erste August, nur leider spielt das Wetter überhaupt nicht mit. Die Familie mit den Kindern war immerhin trotz allem heute auf einer noch höher gelegenen Alp zum Bauernbrunch, einer sich in letzter Zeit einzubürgern scheinende Tradition. Wir erfahren auch, dass die alte Sennhütte, welche dieser neuen, modernen Platz machen musste, einzeln abgetragen und im Ballenberg wieder aufgebaut und dort ihre zweite Heimat gefunden hat.
Der Rest des Weges führt uns nun auf dem Fahrweg auf gut 2000 Metern zum Teil an hohen Felswänden entlang fast bis nach Lü durch den Wald. Von der herrlichen Lage dieses Dörfchens, so hoch und erhaben über dem Val Müstair, bekommen wir vor lauter Nebel heute gar nicht mit, wie klein es ist, hingegen schon. Kürzer könnte allein der Name schon gar nicht sein und nach der Ortstafel, kommen zwei, drei Häuser, eins davon eine Art Sternwarte, wo man in den Mond guckt, dann die Post, ein stattliches Engadinerhaus mit Sgraffiti und Hängenelken geschmückt und schon steht man vor der ebenfalls mit vielen Blumen dekorierten Pensiun Usteria al Tschierv. Es ist das einzige Restaurant oder Hotel und man hat noch chombras liber. Von den 65 Einwohnern sprechen 90% romanisch. Früher habe ich noch gelernt, dass Lü die höchstgelegene Gemeinde der Schweiz sei, aber seit 2008 haben die fünf Gemeinden Lü, Müstair, Santa Maria, Tschierv und Valchava zu einer politischen Gemeinde Val Müstair fusioniert. Hansruedi hat mir ein interessantes Detail über Lü geschrieben: ‚Bei einer Abstimmung haben die Lüer zu 100 % für SVP gestimmt, was Blocher bewog, den Lüern einen grösseren Betrag zum Erhalt ihrer schönen Kirche zu spenden. Als Dank wurde ihm das Ehrenbürgerrecht verliehen.'

...auf der Alp Campatsch Lü die Post und das Hotel Hirschen 1.August-Schlussbukett

Die Kirche ist ein Haus weiter auf der andern Strassenseite. Auch sie ist winzig, schlicht, aber hell. Neben einer kleinen Orgel aus Arvenholz hat es links und rechts gerade vier Bankreihen, in welchen je drei bis vier Personen Platz nehmen können. Der Friedhof beinhaltet knapp ein Dutzend Gräber und es ist berührend, dass das frischeste Grab das eines Kindes sein muss. Im Familienbetrieb unserer Gastgeber sind auch Kinder und am Haus vis-à-vis habe ich so eine Holztafel gesehen, wie es heute Mode ist, die Geburt eines Kindes zu verkünden, also wenigstens Lichtblicke für Lü.
Im Hotel Hirschen haben wir neben einem Vierbett- auch drei Zweierzimmer bekommen, wovon ich eins mit Marianne teile und so wenigstens einen Schlummertrunk geniessen kann, ohne Angst vor nächtlichen Akrobatikübungen aus den höheren Gefilden eines Kajütenbettes haben zu müssen.
Auch das heutige Dinner fällt in keiner Weise von jenen der vorangegangen Tage ab. Da gibt's keine Ausnahme und schliesslich ist heute der erste August. Anders als kulinarisch kann man den hier ja gar nicht feiern. Draussen regnet es nämlich wieder und eine Erst-August-Rede um ein Feuer ist nicht denkbar. Blocher ist auch nicht zu Besuch hier. Frau Rosa Emilia Moreira hat uns gesagt, dass sie ein spezielles Erst-August-Menü kochen wird und im Informationskasten der Gemeinde auf der gegenüberliegenden Strassenseite ist es ebenfalls angeschlagen: Zuerst gibt es wunderbar knuspriges Tomaten-Bruschetta mit Salat. Darauf ein selten so gutes, hausgemachtes Capuns an Rahmsauce. Das Schweinsfilet im Speckmantel hat im Mantelfutter noch einen guten Zentimeter Brätpolster und das an einer Champignonsauce. Dazu gibt's hausgemachte Pizokels und Rüebli- und Kohlrabigemüse. Auch die Dessertvariation ist der Hit. Neben zwei verschiedenen Glacévariationen findet man ein Stück Engadiner Nusstorte, Bündner Birnenbrot, Traubenbeeren auch ein Stück Alpkäse, sicher vom Hiesigen. Leise Teilhaber an diesem Festessen sind all die hundert Fliegen, die zusammen mit uns die Gaststube bevölkern. Man darf denen aber nichts zuleide tun, denn auf einem Anschlag an der Wand ist zu lesen: ‚Liebe Gäste, wir bitten Sie, NICHT mit der à la carte Karte nach den Fliegen zu schlagen! Das gibt unappetitliche Flecken und bricht die Karten auseinander'.
Immerhin habe ich gelernt, dass Fliegen trotz ihrer facettenreichen Augen in der Nacht nichts sehen können und wohl auch schlafen. Sie haben uns im Zimmer nämlich nur solange es hell war penetrant belästigt und gekitzelt. Hoffnungslos, dass wir alle erwischt hätten (nicht mit der à-la-Karte), bevor wir zu Bett gingen.

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