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So ist auch der erste Blick aus dem Fenster: Der riesige Quarzkristall an der
Wetterstation aus der Wikingerzeit neben dem Hauseingang ist nass, was bedeutet,
dass es regnet. Nebelwände kommen und gehen und kriechen wie
Wasserfälle in Zeitlupe über Kreten und Pässe und polstern ganze
Täler mit ihrer weissen Watte aus. Vom Glaspass, dem Übergang vom
Safiental ins Domleschg, meistern wir die Höhendifferenz zwischen 1846 und
720 Metern in Thusis mit dem Postauto in einer guten halben Stunde. Hier in
Thusis beginnt nun die Via Spluga, wo die Traversierung vom Hinterrhein
über den Splügen nach Chiavenna zum Teil den uralten Säumerpfaden
folgt. Geplant ist eigentlich die Variante, welche zuerst über
Hohenrätien und später über den Traversiner Steg zur Viamala
führt. Aber ein Aufstieg bei diesem Wetter hinauf in den Nebel reizt
eigentlich nicht. Das verlorene Loch tönt geheimnisvoll und niemand von uns
ist diese Variante schon gegangen. Also folgen wir dieser geteerten Strasse,
welche noch bis in die Sechzigerjahre als einzige Fahrstrasse benutz wurde.
Heute brausen über unseren Köpfen mal nah, mal etwas ferner die Autos
auf der Viamalastrasse dahin und verschwinden dann noch vor dem verlorenen Loch
im Berg über uns. Die Autobahn als neuste Verbindung zwischen Thusis und
Andeer ist diesem wilden, von Steinschlag gefährdeten Teil zum vornherein
ausgewichen und durchbohrt den Crapteig in einem über zwei Kilometer langen
Tunnel und kommt bei Rongellen wieder ans Tageslicht. Für uns Wanderer will
aber niemand Verantwortung übernehmen und wer heute und besonders bei
solchem Wetter durch das verlorene Loch unterwegs ist, tut dies auf eigene
Gefahr. Zu Beginn erscheint die vergammelte Strasse fast romantisch. Am
Strassenrand stehen noch steinerne Leitplankenpfosten, in welchen aber die
Planken fehlen. Brombeeren und anderes Rankengestrüpp überwuchert sie
und den Rand schon bis weit in die Strasse hinein.
Auf der linken Seite begleitet uns die steile Felswand von Hohenrätien und
unten der Hinterrhein.
Dann sehen wir aber bald den Grund für die Warnungen. Immer mehr
heruntergefallener hölzerner Unrat und Steine liegen auf der Strasse und
viele haben die hier nun eisernen Leitplanken arg malträtiert. Es kommt
schon ein bisschen ein mulmiges Gefühl auf und die Aufmerksamkeit richtet
sich automatisch etwas nach oben. Überhängender Fels und gar ein
Tunnel beruhigen ein bisschen. Aber ab und zu muss man doch stehen bleiben und
tief hinunter in den schmalen Spalt, den das Wasser hier aus dem Fels gefressen
hat, staunen. Immerhin hat es beim Start in Thusis aufgehört zu regnen und
bis Rongellen drückt schon fast die Sonne etwas durch.
Bis hier hat uns die Via Spluga auf der alten Fahrstrasse geführt und
enttäuscht über das für mich zu gewöhnliche Aussehen der
Alten Post, diese von Marcel und anderen in allen Tönen gelobte und
wärmstens empfohlene Besenbeiz, folgen wir nun ohne Kaffee im Bauch dem Weg
hinunter an den Hinterrhein. Auch dort bei der Brücke wirbt ein
buntgeschmückter Besen bei weiteren potenziell enttäuscht zu werdenden
Wanderern für seine Beiz. Hier treffen wir auf den Weg, auf welchem wir,
hätten wir jenen über Hohenrätien genommen, vor einer
Viertelstunde den Traversinersteg traversiert hätten. Und hätten wir
uns oben, ein paar Schritte nach der Besenbeiz nicht zu sehr über deren
langweiliges Aussehen aufgehalten, hätten wir dieses architektonische
Highlight der Viamala-Schlucht von der Strasse aus sehen können. (Solches
kann man ja dann zuhause mit Street View nachholen).
Niemand hat nun Lust, wegen dieses Stegs die zusätzliche halbe Stunde noch
in Kauf zu nehmen. Die meisten haben ja ihre Visitenkarte bei der letzten
Traversierung im Brückenbuch hinterlegt, was man im Bericht der
Sommerwanderung 2008 nachprüfen kann.
Bis zum Kiosk ist es noch etwa einen Kilometer, auf welchem man aber gerade
hundert Höhenmeter zu überwinden hat. Meine Dampfwalze funktioniert
wieder. Prustend wegen des Aufstiegs und dampfend, weil ich die Regenjacke nicht
ausgezogen habe, als die Sonne wieder lachte, höchstens die Ärmel
zurückgeschoben. Im Kiosk in der Viamala gönnen sich die meisten
zuerst einen Kaffee auf dem Terrässchen hoch über der Schlucht. Aus
den Ärmeln meiner Regenjacke ergiessen sich nun ganze Sturzfluten, welche
sich an den Ellenbogen gesammelt haben und meine Bluse wäre bei weitem
nicht so nass, hätte ich gar keinen Regenschutz angezogen…
Während sich die einen über die vielen Treppen hinunter in die Tiefe
der Schlucht wagen, um diese Engnis noch reeller auf sich wirken zu lassen,
setze ich mich oben mit meinem Kaffee und der nassen Bluse in die Sonne. Jene
von uns mit den jüngsten oder jedenfalls unermüdlichsten Beinen, haben
beschlossen, den Weg Richtung Zillis noch unter die Füsse zu nehmen, doch
sie haben die nächste Brücke noch nicht erreicht, als bereits ein
nächster Regenvorhang die Schlucht verdunkelt. Sollen wir nun hier eine
ganze Stunde aufs nächste Postauto warten, das uns nach Zillis bringt? In
dieser Zeit schaffen wir bestimmt den Weg bis zur nächsten Haltestelle.
Mutig hüllen wir uns halt wieder wasserdicht ein und treffen zu unserer
Überraschung bei der Brücke die beiden noch Mutigeren wieder an. Sie
haben sich während des hässlichen Regenschauers in einem Info-Raum die
Geschichte des Splügenpasses und die verschiedenen Beweggründe des
Begehens auf dem Weg Richtung Süden auf lehrreichen Tafeln zu Gemüte
führen können. Neben historischen Auflistungen werden literarische,
militärische, revolutionäre und gar technische Beweggründe
aufgezählt. Da wird von visionären Projekten einer Wasserstrasse
über den Splügen berichtet. Ein schiffbarer Rhein von Basel bis Thusis
und von dort durch Röhren durch Viamala und Rofflaschlucht und dann unter
dem Splügenpass 15 km nach Isola. Verrückt! Aber dennoch muss ein
Projekt ausgeführt worden sein, mit welchem man in der zweiten Hälfte
des letzten Jahrhunderts eben durch Röhren jährlich 5,7 Millionen
Tonnen Rohöl von Genua über den Splügen nach Ingolstadt zu den
Raffinerien gepumpt hat.
Inzwischen ist es draussen nun bereits wieder am Abtrocknen und schon nach einer kurzen Strecke noch auf der Strasse, können wir dem braunen Wegweiser folgen, der die Via Spluga sehr gut ausschildert und uns durch den Wald hinunter wiederum an den Hinterrhein führt, da wo sich die Schlucht jetzt weitet und das Wasser sich noch geduldig anstauen muss, bevor es sich dann halsbrecherisch in die Felsspalte hinunter stürzen kann. Über 40 Meter Weite spannt sich da die Punt da Suransuns in nicht ganz so schwindelnder Höhe über dem Bachbett. Um weit oben den eleganten Bogen der Autobahnbrücke zu bewundern, muss man den Kopf aber schon recht in den Nacken legen. Wieder auf der östlichen Seite des Flusses, geht's auf angenehmem Pfad weiter bis zum Zeltplatz Rania, wo wir in ein paar Minuten das Postauto erwarten. Damit ersparen wir uns eine etwas unattraktive Strecke auf der Strasse oder als Alternative einen Aufstieg von noch etwa 100 Höhenmetern hinauf nach Reischen. Wir möchten nämlich der Kirche in Zillis mit ihrer legendären Kassettendecke noch einen Besuch abstatten.
Dort auf dem Parkplatz bei der Kirche in Zillis wartet uns Pascal mit einer
riesigen Überraschung auf. Er hat letztes Wochenende nicht nur zwecks
Markierungen unter einer Tanne anzubringen, den Dreibündenstein
rekognosziert, sondern hat seinen Jeep aus Basel als Alpentaxi hier stationiert
und den benutzen wir nun zuerst als Depot für unsere Rucksäcke. Esti
und Prisca scheinen heute noch zu wenig gefordert zu sein und sie entschliessen
sich, während wir andern uns die Ausstellung und die Kirchendecke zu
Gemüte führen, den Weg hinauf nach Wergenstein unter die Füsse zu
nehmen, da es für alle acht mitsamt den Rucksäcken im Alpentaxi dann
doch ein bisschen eng würde.
Es ist recht lohnend und aufschlussreich, vor dem Besuch der Kirche die
Ausstellung zu besichtigen. So kann man dann beim Betrachten der Decke auch eine
gewisse Symbolik erkennen und auch die Darstellung von unmöglichen
Fabelwesen und Monstern in einer Kirche zu akzeptieren versuchen.
Jetzt kommt die Gugelfuhr. Zusammen mit unseren Rucksäcken ist der Jeep nun
pumpevoll und es ist gut, sind die andern Beiden vorausgeeilt. Sie haben unsere
Ankunft im Muntanella bereits angekündigt und erwarten uns schon frisch
geduscht. Auch ein intensiver Regenbogen leuchtet uns zur Begrüssung
über den Dächern von Wergenstein. Wir werden von Lisa Mani herzlich
empfangen. In der urgemütlichen Arvenholzstube ist bereits der mit frischen
Wiesenblumen geschmückte Tisch gedeckt und aus der Küche duftet der
Braten. Gemütlich und warm ist es in diesem alten Haus in der Stube.
In einer Vitrine findet Lykke-Lise das sorgfältig aufbewahrte und
konservierte Brautsträusslein zum Andenken an Christian und Anna Clopaths
Hochzeit im Jahre 1910. Das ist doch gerade die ideale Vorlage um ihr heutiges,
ganz privates Jubiläum bekannt zu machen - Knud und Lykke-Lises 40.
Hochzeitstag. Wie sagten sie eben - Rubin-, Granat- oder Smaragd-Hochzeit? Da
stossen wir doch gerne alle darauf an. Zum Abrunden, nachdem alle Bäuche
mit der feinen Polenta und dem köstlichen Hackbraten gefüllt sind,
offeriert uns Lisa zur Feier des Tages einen Williams oder Grappa. Dazu wird der
morgige Tag beratschlagt. Eigentlich ist ein freier Tag vorgesehen, welchen man
hier in Wergenstein und Umgebung geniessen könnte, oder eine Wanderung
hinauf zur Cuvercalhütte, eine SAC-Hütte noch nach altem Schrot und
Korn und die würde einige von uns schon locken. Einer Exkursion zur
Strahlerkluft mit dem Berufsstrahler Josche von Wergenstein, wollte sich nach
meiner Umfrage niemand anschliessen und so wäre uns die Pauschale von 400
Franken nur unter Lykke-Lise und mir aufgeteilt, zu hoch gewesen. Ausserdem ist
der Strahler diese Woche jetzt gar nicht im Land und so können wir seine
Werkstatt und Ausstellung seiner Kristalle und Steinschmuck nicht mal
besichtigen. Die Cuvercalhütte scheint unter dem jetzigen Aspekt auch ein
bisschen näher gerückt zu sein. Mit dem eigenen Alpentaxi inkl. Fahrer
müsste man den langen Heimweg nicht gleich berechnen. Oder aber, man
könnte, gleich wie Esti das im Sinn hat, hinunter nach Sufers absteigen.
Nur, wenn bei dieser Variante alle mitkommen, müsste man jemanden
engagieren, der auch Alpentaxi spielt und der dann den Jeep vom Parkplatz Tguma
wieder nach Wergenstein hinunter bringt. Nur für all das scheint der
Wetterbericht für morgen nicht ideal zu sein.
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